Zum Scheitern verurteilt?

Dass es für Jesse Marsch kein leichtes Unterfangen sein würde, das Erbe von Julian Nagelsmann anzutreten, war schon vor der Saison offensichtlich. Wenn einer der besten Trainer der Welt den Verein verlässt und dabei das Monopol des größten „Konkurrenten“ noch weiter verstärkt, dann stehen die Chancen auf einen Titel zumindest nicht besser als zuvor. Insofern ist es also nicht gerade schockierend, dass Leipzig unter Marsch hinter den naturgemäß hohen Erwartungen zurückblieb. Man sollte ihn nicht zum Sündenbock dafür machen, dass RB nicht um die Meisterschaft mitspielen oder eine Champions-League-Gruppe mit Manchester City und Paris Saint-Germain überstehen kann. Die Frage, die sich mir beim Amtsantritt des US-Amerikaners stellte, ging in eine andere Richtung: Passt die fußballerische Philosophie von Marsch zu dem, was in Leipzig in den letzten Jahren aufgebaut wurde?

Unter Nagelsmann entwickelte sich Leipzig zu einer attraktiven Ballbesitzmannschaft. Den Heavy-Metal-Fußball, der unter der Obhut von Ralf Rangnick im RB-Imperium zelebriert wurde, erweiterte Nagelsmann in seinen zwei Jahren als Trainer um ein ausgefeiltes Positionsspiel und mehr Ideen im Spielaufbau. Auf diesem Fundament hätte man in diesem Sommer aufbauen sollen – dafür war Jesse Marsch nicht der richtige Mann. Mit dem 48-Jährigen und seiner extrem auf (Gegen)Pressing und schnellem Umschalten beruhenden Spielidee, die er in Salzburg zugegebenermaßen sehr erfolgreich umgesetzt hatte, machte man eher einen Schritt zurück. Noch vor der Nagelsmann-Ära wäre Marsch der perfekte Trainer gewesen, um in die Fußstapfen von Rangnick und Ralph Hasenhüttl zu treten. Doch bei RB hatte man bereits neue Wege eingeschlagen, auf denen er sich nicht zurechtfand.

Gerüchten zufolge gab es vor der Saison sogar aus Spielerkreisen Zweifel daran, ob Marsch der richtige Trainer für diese Truppe sei – und das ließ sich auch später auf dem Rasen beobachten. Coach und Mannschaft schienen nie so recht auf einer Wellenlänge zu sein. Überzeugende Leistungen wechselten sich in regelmäßigen Abständen mit eklatanten Schwächephasen ab, vergebens suchte man nach einem konstanten Level. Marsch hat es in seiner kurzen Amtszeit nie geschafft, den Roten Bullen Flüüügel zu verleihen. (Sorry, den konnte ich mir nicht verkneifen.) Seine Entlassung war die logische Konsequenz und zugleich ein Eingeständnis der Verantwortlichen, dass man schon bei seiner Verpflichtung einen Fehler begangen hatte.

Trotz all der berechtigten Kritik an Marsch und seiner unpassenden Philosophie möchte ich nochmals betonen, dass er keinesfalls der alleinige Schuldige für die bislang enttäuschende Saison der Leipziger ist. Der amtierende Vizemeister wurde gezwungenermaßen in einen mittelgroßen Neuaufbau gestürzt. Nach der erfolgreichsten Spielzeit der jungen Vereinsgeschichte musste man die Abgänge des Erfolgstrainers, des Abwehrchefs (Dayot Upamecano) und des Kapitäns (Marcel Sabitzer), die allesamt nach München auswanderten, verschmerzen. Man kann nicht erwarten, dass sich eine Mannschaft von einem solchen personellen Aderlass ohne Weiteres erholt. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass Marsch seinem Ruf als ausgezeichneter Motivator gerecht geworden und einigen Spielern in ihrer Entwicklung enorm geholfen hat. Ich denke dabei vor allem an Christopher Nkunku, der unter dem Amerikaner phänomenale Leistungen zeigte und inzwischen sicherlich bei zahlreichen Spitzenclubs auf dem Wunschzettel steht.

Marschs Amtszeit war also kein vollkommenes Versagen, seine Entlassung aber dennoch unstrittig. Aus Leipziger Sicht wird nun die spannende Frage sein: Ist Domenico Tedesco der passende Nachfolger? Nachdem man sich mit Marsch einmal mehr für einen Kandidaten aus den eigenen RB-Reihen entschieden hatte, wendet man sich nun wieder an einen Außenstehenden. Der junge Deutsch-Italiener reifte in der Jugend der TSG Hoffenheim zum begehrten Trainertalent – ebenso wie ein gewisser Ex-Coach der Leipziger. Nach dem Sprungbrett Erzgebirge Aue schaffte er auf Schalke den Durchbruch, indem er die Königsblauen zur überraschenden Vizemeisterschaft 2017/18 führte. Danach ging es allerdings steil bergab und Tedesco wurde nach einer katastrophalen Saison im März 2019 entlassen. Seine letzten Amtshandlungen in der Bundesliga könnten also durchaus zu Zweifeln führen, ob er der richtige Mann für die Leipziger Bank ist. Zumal Schalke unter seiner Federführung nicht gerade für attraktiven Ballbesitzfußball bekannt war.

Dass Tedesco über das taktische Fachwissen verfügt, um als RB-Trainer erfolgreich zu sein, bezweifle ich nicht. Dass sein Versuch, auf Schalke ansehnlichen Fußball spielen zu lassen, krachend gescheitert ist, schwirrt mir trotzdem noch im Hinterkopf herum. (In dieser Sache muss ich mir aber auch eine gewisse Subjektivität eingestehen.) Als Coach von Spartak Moskau hat der 36-Jährige in den letzten Jahren durchaus interessante Ansätze gezeigt. Und auch sein erstes Spiel mit Leipzig – ein überzeugender 4:1-Sieg gegen Gladbach – war ermutigend. In einem 3-4-1-2-System setzte er Emil Forsberg als Zehner sowie Nkunku und André Silva als eine Art Doppelspitze ein. Das Ergebnis war ein Chancen-Feuerwerk gegen völlig überforderte Gladbacher, die allerdings aktuell keine allzu hohe Messlatte sind. Nichtsdestotrotz war es ein mehr als gelungener Einstand für Tedesco. Ich kann mir gut vorstellen, dass er mit dieser Mannschaft einige spannende Dinge anstellen kann.

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