The Champions

Immer wenn die Champions-League-Hymne ertönt, habe ich Gänsehaut. „Die Meister. Die Besten. Les grandes équipes. The Champions.“ Der silberne Pokal mit den großen Ohren ist die Krone des europäischen Vereinsfußballs. Und selten hat sich eine Mannschaft auf so überzeugende Weise diese Krone aufgesetzt wie in diesem Jahr. Selbst als ehemaliger Bayern-Hasser (inzwischen respektiere ich sie zumindest) muss ich zugeben: Was der FC Bayern München in den letzten Wochen und Monaten gezeigt hat, war einfach unfassbar gut. Sie waren die Meister und die Besten. Sie waren la plus grande équipe. Sie sind die Champions – und das hochverdient.

Betrachtet man nur das gestrige Finale gegen Paris St. Germain, dann hätte es auch anders laufen können. Die Franzosen hatten die größeren Chancen und haben in der ersten Halbzeit in meinen Augen den besseren Eindruck hinterlassen. Aber am Ende war es mal wieder verdient. Weil Hansi Flick endgültig bewiesen hat, dass er ein herausragender Trainer ist. Weil Neymar und Kylian Mbappé in der zweiten Halbzeit weitestgehend untergetaucht sind. Und weil die Bayern nach dem Führungstreffer durch Kingsley Coman genau das gezeigt haben, was sie quasi unschlagbar gemacht hat, seit Flick hauptverantwortlich an der Seitenlinie steht.

Dass ausgerechnet Coman, der in der PSG-Jugend ausgebildet wurde, das goldene Tor erzielt, ist bezeichnend für Flicks Anteil an diesem Triumph. Obwohl Ivan Perisic in Lissabon zwei richtig gute Spiele gemacht hat, bekam Coman den Vorzug auf der linken Seite. Und der Schachzug zahlte sich aus: Flick hatte die größte Schwachstelle der Pariser entdeckt und nutzte diese aus. Thilo Kehrer ist kein gelernter Rechtsverteidiger und sah in Sachen Tempo gegen die Highspeed-Dribblings von Coman kein Land. Und Ángel Di María – bei aller offensiven Genialität – ist nicht gerade für sein Engagement gegen den Ball bekannt. Noch ein Fun Fact zu Coman: Mit seinen 24 Jahren hat der Franzose gestern seinen zwanzigsten Titel gewonnen. 20 Titel in 193 Spielen! Das entspricht einer Trophäe alle 9,65 Spiele.

Im Spiel von PSG war Kehrer allerdings nicht die einzige Schwachstelle. Nachdem Superstar Neymar in der ersten Halbzeit noch der beste Mann auf dem Platz war, kam er in den zweiten 45 Minuten überhaupt nicht mehr zur Entfaltung. Bei jeder seiner Aktionen standen ihm mehrere Bayern-Spieler (oft auch wortwörtlich) auf den Füßen und nahmen dem Brasilianer jegliche Spielfreude. Mbappé war im zweiten Durchgang überhaupt kein Faktor mehr. Außerdem kamen für meinen Geschmack über die komplette Spielzeit hinweg zu wenige kreative Impulse aus dem Pariser Mittelfeld. Marquinhos, Ander Herrera und Leandro Paredes leisteten zwar gute Arbeit gegen den Ball, aber offensiv wurde es nur dann gefährlich, wenn Neymar oder Di María am Mittelkreis den Spielaufbau übernahmen. Marco Verratti war nach seiner Einwechslung anzumerken, dass er nach langer Verletzung noch nicht wieder in der nötigen Form war.

Trotz dieser Schwächen erspielte sich Paris einige gute Chancen – scheiterte aber immer wieder an Manuel Neuer. Der Münchner Kapitän festigte mit seinen Leistungen in Lissabon einmal mehr seinen Status als einer der besten Keeper der Welt. Keiner der Bayern-Spieler hatte es sich gestern am Ende des Abends mehr verdient, den Henkelpott in den Nachthimmel über dem gespenstisch leeren Estádio da Luz zu recken.

Ansonsten war es für den Rekordmeister fast schon business as usual. Sie griffen zu genau den Mitteln, die sie seit Wochen so stark gemacht haben. Mit überragendem (Gegen)pressing erstickten sie viele Offensivbemühungen der Pariser (gerade in der Schlussphase) im Keim. Thiago war Denker und Lenker im zentralen Mittelfeld und zeigte eindrucksvoll, warum ihn die Bayern nicht ziehen lassen sollten – inklusive einem Geniestreich, der zum Siegtor führte. Thomas Müller spulte gefühlt 20 Kilometer ab und ermöglichte vor dem 1:0 in typischer Thomas-Müller-Manier im Fallen Joshua Kimmich die ideale Flankenposition.

Was bleibt von diesem Finale und dieser Champions-League-Saison? Konkret vom Finale bleibt für mich die Erkenntnis, dass das wichtigste Ass im Ärmel von Hansi Flick kein taktisches oder qualitatives war. Es war seine Menschlichkeit und sein Verhältnis zu den Spielern. Parallelen zu Jupp Heynckes (und auch zu Jürgen Klopp) sind durchaus erkennbar. Vorausgesetzt man bewegt sich in Sachen Taktik und Kaderqualität auf allerhöchstem Niveau – und das tun die Bayern unter Flick – kann diese emotionale Komponente den Unterschied ausmachen. Selbst Taktik-Fuchs Thomas Tuchel hat es nicht geschafft, seiner Mannschaft in diesem Finale auf Augenhöhe mit strategischen Kniffen den entscheidenden Vorteil zu verschaffen. Hansi Flick hat es geschafft, indem er sein Team zum einen taktisch perfekt eingestellt hat, zum anderen aber die persönlichen Beziehungen zu seinen Spielern pflegt wie kaum ein anderer Trainer. Die Roten ackerten und warfen sich in jeden Zweikampf. Es war ihnen anzumerken, dass sie dieses Finale unbedingt gewinnen wollten. Das als alleinig entscheidenden Faktor für den Sieg der Bayern auszumachen, wäre zu oberflächlich. Dafür waren sie auch taktisch und personell zu gut. Aber dass es ein wichtiger Faktor war, steht außer Frage.

Für den FC Bayern München bleibt eine unvergessliche Saison. Nach 2013 ist es das zweite Triple für den Rekordmeister. Mit Neuer, Alaba, Müller und Jérôme Boateng standen gleich vier Spieler in der Startelf, die schon 2013 wichtige Säulen des Teams waren. Mit Javi Martínez saß ein weiterer auf der Bank. Diese Kontinuität und Identifizierung mit dem Verein ist schon beeindruckend – und definitiv einer der Schlüssel zu diesem Erfolg. Es lässt sich darüber streiten, ob der Champions-League-Triumph durch die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen einfacher war als sonst. Zum Beispiel bin ich der Meinung, dass Lyon und RB Leipzig in einem normalen Jahr nicht im Halbfinale gestanden hätten. Aber Corona hin oder her: Der FC Bayern hat nach dem gestrigen Finale 30 Pflichtspiele in Folge nicht verloren. Keine äußeren Umstände können diese Serie weniger beeindruckend machen. Die Bayern haben sich die Krone des europäischen Vereinsfußballs verdient. Sie sind die Champions.

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