Das David-gegen-Goliath-Narrativ wird in der Welt des Sports oft und gerne herangezogen. Menschen unterstützen sie oft instinktiv: die Kleinen, die Benachteiligten, die Underdogs. Aus diesem Stoff sind sportliche Heldengeschichten gemacht. Selten war David gegen Goliath – der kleine Mann gegen den Riesen – so wörtlich übertragbar wie am 6. Juni 2001.
Staples Center, Los Angeles. Auf der einen Seite: The Big Diesel, Shaquille O’Neal. 2,16 Meter und 147 Kilogramm Kampfgewicht. Der vielleicht körperlich dominanteste Basketballer aller Zeiten. Und diesem Ruf wurde er auch an jenem Abend mit 44 Punkten und 20 Rebounds gerecht. Ein echter Goliath. Um ihn herum die Lakers, allen voran natürlich ein 22-jähriger Kobe Bryant. Der amtierende Champion hatte in den bisherigen Playoffs noch kein einziges Spiel verloren und war ohne Probleme in die Finals marschiert.
Auf der anderen Seite: The Answer, Allen Iverson. 1,83 Meter, 75 Kilogramm. Die spektakuläre One-Man-Show der Philadelphia 76ers. Er und sein Team mussten sich in die Finals kämpfen und haben bereits zwei 7-Game-Series in den Knochen. Iverson führt sein Team mit 48 Punkten quasi im Alleingang zum Overtime-Sieg gegen die schon als unbesiegbar proklamierten Lakers. Bis heute legendär ist eine Szene: A.I. attackiert auf der rechten Seite des Feldes Lakers-Guard Tyronn Lue, lässt ihn mit einem Crossover ganz alt aussehen und verwandelt den Wurf aus der Mitteldistanz. Lue versucht verzweifelt, den Wurf noch zu blocken, verliert dabei das Gleichgewicht und stolpert Iverson vor die Füße. Und der macht demonstrativ einen großen Schritt über seinen am Boden liegenden Gegner – direkt vor den Augen der Lakers-Bank. Als „The Stepover“ ist diese Szene in die NBA-Geschichte eingegangen.
Obwohl ich Allen Iverson nie selbst habe spielen sehen, ist er einer meiner absoluten Lieblingsspieler. Der 1,83 Meter kleine Guard (#HeartoverHeight) brachte die Sixers um die Jahrtausendwende herum vom Niemandsland in die Finals. Allein dafür gebührt ihm der größtmögliche Respekt. Aber vor allem inspiriert er bis heute so viele Menschen – inklusive mich – weil er dabei immer sein Ding durchgezogen hat. In seiner Rookie-Season hat A.I. einmal gesagt: „I don’t wanna be Jordan. I don’t wanna be Bird or Isaiah. I don’t wanna be any of those guys. I want to look in the mirror and say I did it my way.“ Dafür wird er immer in Erinnerung bleiben.
Eins vorweg: Die David-gegen-Goliath-Geschichte 2001 hatte letztlich kein Happy End. Die ShaKobe-Lakers gewannen die nächsten vier Begegnungen und schnappten sich den zweiten von drei Titeln in Folge. Diese Saison sollte Iversons einzige Chance bleiben, um die NBA-Meisterschaft zu spielen. Um in der David-Metapher zu bleiben: Die eine Schlacht gegen Goliath hat er zwar gewonnen – die Herrschaft über Israel blieb ihm aber verwehrt.
Auch wenn A.I. nie die Larry-O’Brien-Trophäe in Händen halten durfte, hat er die NBA geprägt und verändert wie kaum ein anderer vor oder nach ihm. Tattoos, Cornrow-Frisur, Baggy Clothes – Iverson war einfach anders. Er sorgte im Alleingang dafür, dass NBA- und Hip-Hop-Kultur so eng verschmolzen sind. Er ließ sich von niemandem etwas vorschreiben. Er machte einfach sein Ding. Seine „we talkin‘ ‘bout practice“-Wutrede ist legendär.
Sein Einfluss auf dem Parkett war nicht weniger bedeutend. Mit seiner spektakulären Streetball-Spielweise begeisterte er die Fans und war deshalb „The Answer“ für die Probleme der in der Bedeutungslosigkeit feststeckenden 76ers. Sein Killer-Crossover ist einer der bekanntesten Signature-Moves der NBA-Geschichte. Rookie of the Year, MVP, elf All-Star-Nominierungen, sieben All-NBA-Teams, vier Scoring-Titel, seit 2016 Hall of Famer. Und das alles mit 1,83 Metern. Iverson gab immer 100 Prozent und wurde zum Sinnbild eines Sportlers, der seine körperlichen Nachteile durch Leidenschaft und Einsatz ausgleicht. In sieben Saisons (!) absolvierte er die meisten Minuten aller Spieler in der Liga.
Allen Iverson war eine der prägendsten Figuren der NBA-Geschichte. Und das obwohl sein Weg sehr steinig war. Für viele der Steine war er selbst verantwortlich, das steht außer Frage. Ihm wurde Egoismus auf und neben dem Feld vorgeworfen, er ging auf viele Partys und hatte Eskapaden. Aber sein größter Fehler war, dass er nicht in die Marketing-Maschinerie der NBA passte. Die Liga verlangt von seinen „Produkten“, den Spielern, dass sie sich professionell kleiden, verhalten und präsentieren. Iverson sprengte dieses Konstrukt komplett. Der Gangster aus dem Ghetto als Gesicht der familienfreundlichen Liga? Dann doch lieber die zahmen Stars in ihren maßgeschneiderten Anzügen. Aber Iverson polarisierte mit seiner Art – auf einmal wollte jeder Jugendliche Cornrows und Stirnband tragen und beim Ballen Rap hören. NBA-Boss David Stern sah sich 2005 gezwungen, einen ligaweiten Dresscode einzuführen: Keine Freizeitklamotten mehr vor und nach Spielen. Und das nur, weil ein junger Rebell sich getraut hat, mit Tattoos und Cornrows aufzutauchen.
Den Ruf als Bad Boy wurde The Answer nie so richtig los. 2006 kehrte er Philadelphia den Rücken und wurde zu den Denver Nuggets getradet. Dort legte er als 31-Jähriger an der Seite von Carmelo Anthony noch immer beeindruckende Zahlen auf. Umso überraschender kam 2008 der Trade nach Detroit. Dann nach Memphis. Der ehemalige MVP wurde herumgereicht und schien nirgendwo mehr so wirklich gern gesehen zu sein. Verschwörungstheoretiker suchen die Schuld dafür bei Commissioner Stern, der A.I. noch immer als Staatsfeind Nr. 1 ansah. Wie viel Wahrheit hinter solchen Gerüchten steckt, kann natürlich niemand sicher wissen. Nachdem er für die letzten 25 Spiele seiner NBA-Karriere noch einmal nach Philly zurückgekehrt war, verirrte sich Iverson sogar noch zu Besiktas Istanbul in die türkische Liga. Das unrühmliche Ende einer großen Karriere.
Doch es bleibt ein Vermächtnis, das seinesgleichen sucht. Erinnerungen an einen frechen Rookie, der den großen Michael Jordan austanzt. An einen kleinen Mann mit unfassbar großem Herz, der jedes Spiel angeht, als wäre es sein letztes. An den Stepover gegen Ty Lue und die legendären Auftritte 2001. An ein inspirierendes Vorbild, das sich immer treu geblieben ist und sein Ding durchgezogen hat – egal wer oder was sich ihm in den Weg stellt. Ein Blick in die Kabine eines x-beliebigen NBA-Teams reicht aus, um Iversons Einfluss zu spüren: Unzählige Tattoos, Goldketten und extravagante Outfits – über die Anlage laufen Drake, Jay-Z oder Travis. All das begann mit A.I. – The Answer war die Antwort auf die Fragen, die vor seiner Zeit noch nicht einmal gestellt wurden. „I want to look in the mirror and say I did it my way“ – wollen wir das nicht alle irgendwann?