Players to Watch bei der EM

Ich muss zugeben, dass sich meine Vorfreude auf die Europameisterschaft in den letzten Wochen sehr in Grenzen gehalten hatte. Seit ich jedoch mit der Recherche für diesen Beitrag begonnen habe, ist das EM-Fieber immer stärker geworden. Wie bei jedem großen Turnier bin ich vor allem gespannt darauf, welche Nicht-Superstars das Rampenlicht für sich beanspruchen werden. Führungsspieler bei Geheimfavoriten, junge Talente oder einfach Spieler, die generell unterbewertet sind. Ich habe mich auf die Suche nach Akteuren gemacht, die im Vorfeld dieses Turniers (zu Unrecht) unter dem Radar fliegen.

Um dem Ganzen wenigstens ein bisschen Struktur zu geben, habe ich mich auf elf Spieler beschränkt und diese in einer imaginären Elf aufgestellt. Ein Torwart, drei Verteidigern, vier Mittelfeldspieler, drei Angreifer – eine 3-4-3-Formation. Das heißt nicht, dass ich diese Spieler so in eine Partie schicken würde. Ihr werdet vermutlich gleich zu der Erkenntnis kommen, dass eine solche Aufstellung in der Praxis nicht viel Sinn ergeben würde. Es ging mir lediglich um einen Anhaltspunkt. Um die Aufstellung etwas vielseitiger und spannender zu gestalten, habe ich mich außerdem auf einen Spieler pro Nation beschränkt. Jetzt aber genug Vorgeplänkel – das sind meine elf „Players to Watch“ bei der Europameisterschaft:

Kasper Schmeichel (Torwart, Dänemark): Der Keeper von Leicester City ist einer der Führungsspieler eines dänischen Teams, das meiner Meinung nach bei diesem Turnier für eine Überraschung sorgen könnte. Die Dänen verfügen über starkes defensives Personal, taktische Disziplin und sind gefährlich bei Konter- und Standardsituationen. Historisch gesehen ist das eine gute Kombination, um individuell besser besetzte Mannschaften zu ärgern. Zusammen mit Abwehrchef Simon Kjær, den beiden Sechsern Pierre Emile Højbjerg und Thomas Delaney sowie Offensivstar Christian Eriksen bildet Schmeichel die Achse des dänischen Teams. Der 34-Jährige, der bereits seit 2011 für Leicester aufläuft, ist jederzeit für ein Spiel mit mehreren Glanzparaden gut und macht kaum Fehler. Außerdem ist er der Sohn des zweimaligen Welttorhüters Peter Schmeichel, der mit dem legendären „Danish dynamite“-Team 1992 Europameister wurde.

Kieran Tierney (Abwehr, Schottland): Wer denkt, Jogi Löw steht wegen des Überangebots im Mittelfeld vor schwierigen Entscheidungen, der sollte mal einen Blick nach Schottland werfen. Dort steht nämlich Trainer Steve Clarke vor einem mindestens genauso unangenehmen Problem: Zwei seiner drei besten Spieler sind Linksverteidiger. Liverpool-Star Andy Robertson ist Star der Mannschaft und Kapitän, muss also immer spielen. Kieran Tierney sollte bei seiner Qualität jedoch auch Stammspieler sein. Clarke hat eine faszinierende Lösung gefunden: In einem 3-5-2- bzw. 5-3-2-System gibt Robertson den Flügelverteidiger, während Tierney neben ihm als halblinker Innenverteidiger eingesetzt wird. Der 24-Jährige interpretiert diese Rolle sehr offensiv und schaltet sich immer wieder in den Angriff der Schotten ein, indem er in den linken Halbraum stößt oder sogar den einrückenden Robertson auf der Außenbahn überläuft. Denn der Mann von Arsenal London hat seine Stärken ganz klar in der Offensive – 0.4 Expected Assists pro 90 Minuten sind für einen Außenverteidiger ein sehr starker Wert.

Pau Torres (Abwehr, Spanien): Der 24-jährige Spanier verkörpert die Ideale eines modernen Innenverteidigers wie kaum ein anderer Spieler. Torres ist überragend darin, den Spielaufbau seiner Mannschaft von hinten heraus anzukurbeln, was ihn in der abgelaufenen Saison zu einer wichtigen Säule bei Europa-League-Sieger Villarreal gemacht hat. Seine Werte in diversen Pass- und Ballbesitz-Statistiken sind Weltklasse. Sowohl mit Pässen (365 m/90 Min.) als auch mit dem Ball am Fuß (191 m/90 Min.) verhilft er seinem Team zu Raumgewinn in Richtung des gegnerischen Tors. Es lässt sich allerdings auch nicht verschweigen, dass Torres in der Defensive nicht gerade ein Fels in der Brandung ist. Bei seinem Jugendclub Villarreal ist er deshalb neben dem rustikalen Routinier Raúl Albiol perfekt aufgehoben. Im Trikot der Furia Roja hätte er den idealen Nebenmann für Sergio Ramos geben können. Da dieser nun jedoch nicht bei der EM dabei sein wird, könnte Torres sogar eine noch wichtigere Rolle zuteilwerden.

Reece James (Abwehr, England): Inwiefern Reece James für die Engländer zum Schlüsselspieler werden kann, hängt davon ab, in welcher taktischen Grundausrichtung Gareth Southgate seine Mannschaft aufs Feld schickt. Entscheidet sich der Coach der Three Lions für eine Viererkette, könnte man argumentieren, dass Kyle Walker oder Kieran Trippier bessere Kandidaten für die Rolle des Rechtsverteidigers sind. Sollte man es jedoch mit einer Dreierkette und zwei Flügelverteidigern versuchen wollen, ist James der beste Mann für die rechte Außenbahn. Das Skillset des 21-Jährigen ist perfekt auf diese Rolle, die er auch beim FC Chelsea unter Thomas Tuchel einnimmt, zugeschnitten. James‘ Geschwindigkeit und offensive Präsenz auf dem Flügel könnte ein wichtiges Stilmittel für die Engländer werden – vor allem wenn er hinter Mason Mount oder Jadon Sancho spielt, die sich in ihren Aktionen viel ins Zentrum orientieren. James schlägt mehr als vier Flanken pro 90 Minuten und bewegt sich damit im 95. Perzentil – also nur 5% aller Außenverteidiger in Europas Top-5-Ligen flanken häufiger. Anders als bei den Blues hat James in der Nationalmannschaft mit Harry Kane sogar einen Weltklasse-Abnehmer für seine Hereingaben.

Oleksandr Zinchenko (Mittelfeld, Ukraine): Die Ukraine unter Coach Andriy Shevchenko sind einer meiner Geheimtipps bei dieser EM. Der ehemalige Weltklasse-Stürmer und Ballon-d’Or-Gewinner von 2004 ist von der Seitenlinie aus quasi der Star seiner Mannschaft. Er präferiert ein 4-3-3 oder 4-1-4-1-System, in dem zwei zentrale Mittelfeldspieler das Herzstück der Mannschaft bilden: Ruslan Malinovskyi von Atalanta Bergamo und Oleksandr Zinchenko von Manchester City. Wem schon mal aufgefallen ist, dass Zinchenko unter Pep Guardiola oftmals nicht den klassischen Außenverteidiger gibt, sondern im eigenen Ballbesitz quasi die Rolle eines Sechsers einnimmt, den dürfte es kaum wundern, dass sich der 24-Jährige in der Nationalmannschaft im zentralen Mittelfeld am wohlsten fühlt. Shevchenkos offensive Spielidee fußt auf Ballkontrolle, schnellen Angriffen und präzisem Kurzpassspiel – für all diese Prinzipien ist Zinchenko unentbehrlich. Er und Malinovskyi sind im Spielaufbau die Schaltzentrale, in der alle Fäden zusammenlaufen. An einem guten Tag können die Ukrainer jedem Gegner gefährlich werden und noch dazu attraktiven Fußball spielen.

Tomáš Souček (Mittelfeld, Tschechien): Jaroslav Šilhavý ist seit 2018 Nationaltrainer der Tschechen und hat seine Herangehensweise seitdem nicht nennenswert verändert. Er fordert von seinen Spielern vollen Einsatz, aggressives Pressing und eine gut organisierte Defensive. Der unangefochtene Schlüsselspieler für dieses System: Tomáš Souček. Der 1,93-Meter-Hüne wechselte vor der abgelaufenen Saison von Slavia Prag zu West Ham United und war dort einer der Hauptgründe für den Aufschwung der Hammers. Souček ist nicht der filigranste Techniker oder sicherste Passgeber, aber seine Dynamik, defensive Stabilität und Torgefahr suchen ihresgleichen. In nahezu jeder Torschussstatistik bewegt sich Souček im Vergleich zu den anderen Mittelfeldspielern Europas mindestens im 90. Perzentil – allein seine 0.24 Non-Penalty Expected Goals pro 90 Minuten (npxG/90) sind absolute Weltklasse. Zwei weitere Metriken veranschaulichen seinen Aktionsradius eindrucksvoll: Der 26-Jährige verzeichnet pro 90 Minuten 4.45 Ballkontakte im eigenen Sechzehner (97. Perzentil) sowie 2.77 im gegnerischen Strafraum (92. Perzentil). Egal ob als alleiniger Sechser in einem 4-1-4-1 oder als Teil einer Doppelsechs im 4-2-3-1 – Souček wird maßgeblichen Anteil am Erfolg oder Misserfolg der Tschechen haben.

Nicolò Barella (Mittelfeld, Italien): Italien ist eine zu große Fußballnation, um sie als Geheimfavoriten für dieses Turnier bezeichnen zu können. Dennoch scheint kaum jemand die Squadra Azzurra zu den Titelanwärtern zu zählen – ein Fehler! Das Team von Trainer Roberto Mancini ist seit September 2018 in 27 Spielen in Folge ungeschlagen und hat die letzten acht Partien mit Zu-Null-Siegen beendet. Obwohl die Innenverteidigung – warum auch immer – weiterhin aus Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini besteht, sind die Italiener weit entfernt vom Catenaccio vergangener Tage. Das Herzstück ist das Mittelfeld-Trio: Jorginho, Marco Verratti und Nicolò Barella. Der 24-Jährige, der gerade erst mit Inter Mailand die Serie A gewann, ist einer der spannendsten Spieler des Turniers. Mit schier unbändiger Energie beackert er als technisch starker Box-to-Box-Spieler den gesamten Rasen. Während Jorginho und Verratti (der verletzungsbedingt mindestens das Eröffnungsspiel verpassen wird) den Spielaufbau aus der eigenen Hälfte heraus kontrollieren, stößt Barella immer wieder mit tiefen Läufen zwischen die gegnerischen Linien. Stellenweise ist der Mittelfeldmotor de facto als zusätzlicher Stürmer neben Lorenzo Insigne und Ciro Immobile zu finden, wo er seine Torgefahr am besten ausspielen kann. Barella könnte seine rasante Entwicklung bei Inter bei dieser EM fortführen und zu einem der Spieler des Turniers werden. Außerdem ist er ein großer Basketballfan und hat einen Terrier namens LeBron – allein dafür verdient er einen Platz in dieser Elf.

Eljif Elmas (Mittelfeld, Nordmazedonien): Beim SSC Neapel stand Elmas in der abgelaufenen Saison im Schnitt nur 27 Minuten pro Spiel auf dem Feld, zeigte aber in seinen Einsätzen, dass er enorm viel Potenzial hat. Nicht umsonst ist der Spitzname des in Mazedonien geborenen Sohns türkischer Eltern „mazedonischer Diamant“ („Elmas“ ist buchstäblich das türkische Wort für Diamant). Der 21-Jährige ist das Gesicht des nordmazedonischen Fußballs und neben Routinier Goran Pandev der große Hoffnungsträger einer gesamten Nation. Selbst bei eingeschränkten Einsatzzeiten für Napoli sorgte er regelmäßig für Wirbel und stellte seine Vielseitigkeit unter Beweis. 1.75 Abschlüsse und 0.22 npxG pro 90 Minuten sind überragende Werte für einen offensiven Mittelfeldspieler, ebenso wie eine Passquote von 91%. In der Nationalmannschaft bildet Elmas zusammen mit Pandev eine nominelle Doppelspitze, hat aber im Prinzip alle Freiheiten, seine Kreativität auszuleben. Das bekamen unter anderem Jogis Jungs zu spüren, als Elmas mit seinem 2:1-Siegtreffer in der 84. Minute Ende März die peinliche Pleite für die Deutschen in der WM-Qualifikation besiegelte. In der Gruppe C mit Österreich, Holland und der Ukraine sind die Mazedonier zwar nicht favorisiert, sollten aber auf keinen Fall als Kanonenfutter abgestempelt werden. Ich traue ihnen das Weiterkommen zu – nicht zuletzt wegen Eljif Elmas.

Burak Yilmaz (Angriff, Türkei): Burak Yilmaz ist ein Phänomen. Der 35-jährige Routinier hat die vielleicht beste Saison seines Lebens hinter sich. Mit 16 Toren und fünf Assists in 28 Ligaspielen hatte er maßgeblichen Anteil daran, dass der OSC Lille sensationell französischer Meister wurde. Zusammen mit seinen Teamkollegen Yusuf Yazici und Zeki Celik will er nun dafür sorgen, dass die Türkei bei dieser EM möglichst weit kommt. Zuzutrauen ist es ihnen allemal. Die Türken verfügen über einen guten Mix aus jungen und erfahrenen Spielern – mit dem Anführer Yilmaz an vorderster Front. Unter dem legendären Trainer Şenol Güneş, der sein Land bei der WM 2002 auf Rang 3 führte und seitdem Heldenstatus genießt, könnten die Türken für die ein oder andere Überraschung sorgen – und dabei wird Burak Yilmaz zweifelsohne eine entscheidende Rolle spielen. Fun Fact: Der Routinier spielte bereits für alle Mitglieder der „Big Four“ in der Türkei: die Istanbul-Clubs Fenerbahçe, Galatasaray, Besiktas sowie Trabzonspor.

Alexander Isak (Angriff, Schweden): Der positive Corona-Test von Dejan Kulusevski ist für die Schweden ein herber Rückschlag. Der Shootingstar von Juventus Turin war nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Zlatan Ibrahimović einer der großen Hoffnungsträger im Team von Coach Janne Andersson. In seiner Abwesenheit werden (zumindest im Auftaktspiel gegen Spanien) noch größere Erwartungen auf den Schultern von Alexander Isak ruhen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Isak bei dieser EM seinen großen Durchbruch schaffen wird. Der Stürmer von Real Sociedad kam in der abgelaufenen Saison auf 17 Ligatore – neun mit rechts, fünf mit links und drei per Kopf. Seine 0.57 npxG/90 wurden nur von Lionel Messi und Sevillas Youssef En-Nesyri knapp überboten. Isak ist ein kompletter Stürmer – groß, schnell, abschlussstark und auch mit dem Ball am Fuß mehr als passabel (auch wenn er kein Edeltechniker ist). Borussia Dortmund verpflichtete den damals 17-Jährigen in der Saison 2016/17. Auch wenn er in der Bundesliga zunächst nicht überzeugen konnte – Isak ist noch immer erst 21 und zählt zu den vielversprechendsten Stürmern Europas. Kurios: Der BVB könnte im Sommer von einer Rückkaufoption in Höhe von 30 Millionen Euro Gebrauch machen, die weit unter Isaks Marktwert liegt. San Sebastián will das in Vertragsverhandlungen mit ihrem Schützling unbedingt verhindern. Eine gelungene Europameisterschaft des jungen Schweden könnte für noch mehr Brisanz in dieser Geschichte sorgen.

Memphis Depay (Angriff, Niederlande): Ein weiterer Stürmer, der zu den besten Spielern der Ligue 1 gehört. Für Memphis Depay war die Verlegung des Turniers ein Segen – letztes Jahr hätte er die EM verletzungsbedingt verpasst. Nun ist er nicht nur dabei, sondern gehört neben Matthijs de Ligt und Frenkie de Jong zu den wichtigsten Akteuren der Elftal. Depay kann ein Spiel sowohl auf dem Flügel als auch im Zentrum beeinflussen. Der 27-Jährige hat mit 20 Toren und 12 Vorlagen in 37 Spielen eine überragende Saison im Trikot von Olympique Lyon hinter sich. Angeblich soll sein Wechsel zum FC Barcelona bereits in trockenen Tüchern sein. Wie genau Depays Rolle bei der EM aussehen wird, ist schwierig zu prognostizieren. Memphis kann sowohl als alleiniger Stürmer im Zentrum als auch neben einem echten „Brecher“ spielen, von denen Frank de Boer mit Wout Weghorst und Luuk de Jong gleich zwei nominiert hat. Depay ist ein technisch versierter, spielstarker Angreifer, der gleichzeitig viel Tempo und Dynamik mitbringt. Er ist einer der Spieler, auf die ich mich bei diesem Turnier am meisten freue (und ein Kandidat für den Goldenen Schuh).

Honorable Mentions:

  • Spieler, die es aufgrund der Nur-ein-Spieler-pro-Nation-Regel nicht geschafft haben: Federico Chiesa (Angriff, Italien), Merih Demiral (Abwehr, Türkei), Dejan Kulusevski (Angriff, Schweden), Jude Bellingham (Mittelfeld, England), Adam Hlozek (Angriff, Tschechien), Pedri (Mittelfeld, Spanien), Manuel Locatelli (Mittelfeld, Italien)
  • Spannende Talente, die wahrscheinlich bei dieser EM noch keine tragende Rolle spielen werden: Billy Gilmour (Mittelfeld, Schottland), Ryan Gravenberch (Mittelfeld, Niederlande), Alessandro Bastoni (Abwehr, Italien), Jérémy Doku (Angriff, Belgien), Nuno Mendes (Abwehr, Portugal), Jamal Musiala (Mittelfeld, Deutschland)
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