Heute machen wir thematisch einen kleinen Ausflug. Heute geht es nicht um die Bundesliga und nicht um die NBA. Ich werde mich auch nicht über die Lächerlichkeit des Financial Fairplay echauffieren (es war wohl kaum jemand überrascht von der Begnadigung Manchester Citys). Und ich werde mich nicht damit beschäftigen, dass dieses Jahr niemand den Ballon d`Or bekommen wird. Nein, heute führt uns die Reise ins absolute Niemandsland. Inmitten von Feldern und Kuhweiden. Genauer gesagt nach Dänemark. Und noch genauer gesagt in das 48.000-Seelen-Städtchen Herning. Denn dieses nennt ein ganz besonderer Fußballverein sein Zuhause. Heute erzähle ich euch, wie der kleine FC Midtjylland seit ein paar Jahren den Fußball revolutioniert – und was das mit Brad Pitt zu tun hat.
Diese Geschichte beginnt nicht in Dänemark, sondern in Kalifornien. Dort bringt es um die Jahrtausendwende ein gewisser Billy Beane mit seinen Oakland Athletics in der Major League Baseball zu großer Bekanntheit. Denn der Manager sah sich Jahr für Jahr dem gleichen Problem gegenüber: Zwischen seinem Club und den finanziellen Schwergewichten der Liga klaffte eine gewaltige Kluft. Er musste also einen Weg finden, ohne das große Geld zu sportlichem Erfolg zu kommen. Es war die Geburt von Moneyball. Und diese Geschichte ist so unglaublich und besonders, dass sie 2011 sogar in Hollywood verfilmt wurde. Beane – gespielt von Brad Pitt – feuert seine komplette Scouting-Abteilung. Seine neuen Berater sind Algorithmen, Excel-Tabellen und Statistiken. Spieler, die nie im Leben bei anderen Teams einen Job bekommen würden, sind auf einmal Leistungsträger bei den Athletics. Beane und sein Kollege Paul DePodesta (im Film unter dem Namen Peter Brand und gespielt von Jonah Hill) werden von allen Seiten belächelt und für verrückt erklärt. Aber Moneyball funktioniert – Oakland erreicht mehrere Jahre in Folge die Playoffs. Das Happy End des Hollywood-Streifens: Billy Beane/Brad Pitt bleibt seinem Verein trotz einer Mega-Offerte der Boston Red Sox treu und hält auch an dem Moneyball-Konzept fest.
Bevor es dann gleich auf die unscheinbare dänische Halbinsel Jylland geht, müssen wir einen kurzen Abstecher nach London machen. Matthew Benham gründete dort 2004 das Unternehmen SmartOdds. Benham wurde zu einem sehr reichen Mann, indem er mithilfe von Statistiken und Daten die englischen Sportwetten-Buchmacher zur Verzweiflung trieb. Der ehemalige Physikstudent und Wirtschaftsfachmann hat mit seinen beiden Leidenschaften – Fußball und Zahlen – ein Vermögen angehäuft. Das Moneyball-Konzept von Billy Beane hatte ihn schon immer fasziniert. Jetzt will er es wissen: Lässt sich ein solcher Ansatz auch bei einem Fußballclub umsetzen? Baseball ist ein sehr statisches Spiel, bei dem Statistiken viel aussagekräftiger sind als im Fußball. Aber Benham hat seinen Beschluss gefasst: Er kauft 2012 seinen Jugendverein, den FC Brentford, und führte diesen mit seinen Daten und Algorithmen zum Aufstieg in die zweite englische Liga. Allerdings stößt Benham mit seinen Plänen auch immer wieder an Grenzen bei dem konservativen Londoner Club. Er macht sich auf die Suche nach einem zweiten Verein, bei dem er Moneyball etablieren könnte. Er findet ihn 2014 – im dänischen Niemandsland.
Jetzt sind wir angekommen in der Provinz Midtjylland. Den größten Glamour-Faktor hat hierzulande die Textilindustrie (Cristiano Ronaldos Unterhosen werden hier produziert, kein Scherz). Der FC Midtjylland wurde erst 1999 gegründet – der Verein ist also so alt wie ich. Die Heimspiele werden in der schmucklosen MCH-Arena vor maximal 11.000 Zuschauer ausgetragen. Irgendwie passt das zur Beschaulichkeit der Umgebung und des Clubs. Aber seit der Übernahme durch Benham vor sechs Jahren wird hier – neben Ackern und Koppeln – moderner und nachhaltiger gearbeitet als in so mancher Metropole. Und das alles auf der Basis von Zahlen und Statistiken.
In Sachen Standards sind die „Ulvene“ (Wölfe) schon jetzt absoluter Marktführer in Europa – fast ein Tor pro Partie erzielen sie nach ruhenden Bällen. Das Erfolgsrezept: Zahlen, Zahlen, Zahlen. Der Trainerstab nutzte die von Benhams Unternehmen erhobenen Daten und baute darauf die Spielphilosophie des Teams auf. Die sogenannten Expected-Goals-Werte sind für den FC Midtjylland viel mehr als nur eine kurze Einblendung, mit der die meisten Kommentatoren und Experten im Fernsehen nichts anfangen können. Das Team weiß genau, aus welchen Abschlusspositionen ein Tor am wahrscheinlichsten ist – und versucht deshalb, in genau diese Positionen zu kommen. Auch in Sachen Scouting und Transfers setzen die Dänen auf Big Data: Anhand von „Key Performance Indicators“ (da werden bei mir Erinnerungen an so manche langweilige BWL-Vorlesung wach) werden sehr spezifische Leistungsprofile erstellt und so Spieler gefunden, die bei anderen Vereinen komplett unter dem Radar fliegen. Midtjylland bereitet sich außerdem sehr akribisch (und statistisch) auf seine Partien vor – jede Woche wird aufs Neue ein detailliertes Stärken-Schwächen-Profil des Gegners erstellt.
All das mag sich in der Theorie ganz spannend anhören und disruptiv denkende Fußballfans beeindrucken. Aber lange muss man an den Stammtischen dieser Welt wohl nicht suchen, bis man so etwas wie „Beim Fußball braucht es Herz und Einsatz – man kann doch Tore und Siege nicht ausrechnen!“ hört. Das stimmt natürlich bis zu einem gewissen Punkt. Gerade ein Fußballspiel, in dem der Zufall eine noch größere Rolle spielt als in vielen anderen Sportarten, lässt sich nicht einfach durchrechnen. Es gibt keinen Algorithmus, der einem garantieren kann, welche Mannschaft ein Spiel gewinnt. Und wahrscheinlich werden auch die SC Paderborns des europäischen Fußballs nicht an den FC Bayern Münchens vorbeikommen – egal wie viele Zahlen und Statistiken sie zu Rate ziehen. Aber dass Moneyball funktionieren kann, hat der FC Midtjylland bewiesen: Der kleine Club aus dem dänischen Niemandsland gewann 2015 tatsächlich den ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte und stand in der folgenden Saison gegen das große Manchester United in der K.o.-Runde der Europa League. 2018 und dieses Jahr kamen zwei weitere Meisterschaften dazu. Das Team aus dem 48.000-Seelen-Städtchen hat dazu beigetragen, dass der Fußball einen großen Schritt in Richtung Moderne gemacht hat.
Denn digitalisiertes Scouting ist inzwischen bei den meisten großen Vereinen Gang und Gebe. Fähige Trainer haben Expected Goals und Co. längst auf dem Schirm und machen sich solche Metriken zunutze. Für Experten ist es kein Geheimnis mehr, dass sich ein Fußballspiel mit noch viel aussagekräftigeren Statistiken beschreiben lässt als Ballbesitz und Torschussverhältnis. Der Fußball – und der Sport im Allgemeinen – entwickelt sich wie viele andere Branchen auch unaufhaltsam immer mehr in die Richtung von Big Data und Statistiken.
Nochmal zurück zum Beispiel der SC Paderborns und der FC Bayern Münchens der Fußballwelt: Mannschaften im Bundesliga-Keller werden es momentan nicht schaffen, den Branchenprimus mit Moneyball einzuholen. Das hat aber einen einfachen Grund: Auch der große FC Bayern ist schon längst auf den Zug der Datenrevolution aufgesprungen. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit, als diese Revolution noch in den Kinderschuhen steckte, sah das noch anders aus. Sven Mislintat baute bei Borussia Dortmund ein stark auf Daten basiertes Scouting-Netzwerk auf und verschaffte seinem Club so einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber dem finanziell übermächtigen Rekordmeister. Ein Beispiel gefällig? Shinji Kagawa kam 2010 ablösefrei nach Dortmund – aus der zweiten japanischen Liga! Der BVB wurde zweimal Meister und Kagawa war in beiden Jahren eine der tragenden Säulen der Mannschaft. Dann passten sich die Bayern aber ebenfalls den Zeichen der Zeit an und starteten ihre noch immer anhaltende Serie der unangefochtenen Dominanz.
Die Beispiele aus Brentford, Midtjylland und Dortmund zeigen: Moneyball ist schon jetzt etabliert und wird in den nächsten Jahren noch bedeutsamer werden. Wird das Konzept einen weiteren Underdog à la Oakland oder Midtjylland an die Spitze katapultieren? Wahrscheinlich nicht. Denn Moneyball ist keine bahnbrechende Innovation mehr sondern gehört inzwischen zur Normalität. Von Billy Beane über Matthew Benham bis hin zu Guardiola, Klopp, Flick und Co. – die Datenrevolution ist endgültig in der Welt des Sports angekommen.