Meister gegen Lehrling

Am 3. Februar 2002 gewann ein 24-jähriger Quarterback seinen ersten Super Bowl – und wurde dabei als jüngster Spielmacher aller Zeiten zum Super Bowl MVP gekürt. Sein Name? Thomas Edward Patrick Brady Jr. Fast genau 18 Jahre später, am 2. Februar 2020, gewann ein anderer 24-jähriger Quarterback seinen ersten Super Bowl – und wurde dabei als jüngster Spielmacher aller Zeiten Super Bowl MVP gekürt. Sein Name? Patrick Lavon Mahomes II. Heute Nacht stehen sich die beiden in der 55. Auflage des NFL-Endspiels gegenüber – Brady mit den Tampa Bay Buccaneers, Mahomes mit den Kansas City Chiefs.. Der Meister trifft auf den Lehrling – und beide haben die Chance, Geschichte zu schreiben.

Als die beiden Ausnahmekönner letztmals in den Playoffs aufeinandertrafen, waren sie noch in derselben Conference unterwegs. Bradys New England Patriots setzten sich im AFC Championship Game 2019 mit 37:31 gegen Mahomes‘ Chiefs durch. Für Brady war es die letzte Hürde auf dem Weg zu seiner neunten Super-Bowl-Teilnahme – und letztendlich zu seiner sechsten Vince Lombardi Trophy. Für Mahomes, der wenige Tage später zum Regular Season MVP gekrönt wurde, war es das enttäuschende Aus einer Saison, in der sein kometenhafter Aufstieg an die Spitze der NFL-Nahrungskette begonnen hatte. Ein Jahr später war es dann soweit: In seiner dritten Spielzeit führte Mahomes die Chiefs ins Endspiel und bezwang dort die San Francisco 49ers.

Was Tom Brady in seiner 21-jährigen Karriere geleistet hat, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Bei einem Athleten, der in einem Atemzug mit Michael Jordan, Babe Ruth und Muhammad Ali genannt wird, sucht man vergebens nach Superlativen, mit denen er nicht schon beschrieben wurde. Brady ist inzwischen 43 Jahre alt – als er 2002 seinen ersten Super Bowl gewann, ging Mahomes noch in den Kindergarten. Der Altmeister hat in seiner Karriere unfassbare 33 Playoff-Spiele gewonnen, fast alle mit den New England Patriots. Als Dreh- und Angelpunkt führte er die Franchise aus Foxborough, Massachusetts, in neun Super Bowls. Seine sechs Ringe sind ebenso ein Super-Bowl-Rekord wie die neun Teilnahmen, die vier MVP-Trophäen, die 18 Touchdown-Pässe und die 2.838 Passing Yards. Heute Nacht wird Brady sein drittes Endspiel seit seinem 40. Geburtstag bestreiten – kein anderer Quarterback über 40 stand jemals in einem Super Bowl auf dem Feld.

Von 2000 bis 2006 gewann Brady drei Meisterschaften, wurde zweimal Super Bowl MVP und führte die Liga jeweils einmal in Passing Yards und Touchdown-Pässen an. Zwischen 2007 und 2013 wurde er zweimal zum MVP sowie einmal zum Comeback Player of the Year gewählt, hatte in einer Saison die meisten Passing Yards und war zweimal der beste Touchdown-Passgeber der NFL. Seit 2014 kamen noch drei Meisterschaften, zwei Super-Bowl- und eine Regular-Season-MVP-Trophäe sowie jeweils ein Passing-Yards- und Touchdown-Passes-Leader-Titel dazu. Stellen wir uns vor, diese drei Abschnitte – 2000 bis 2006, 2007 bis 2013 und 2014 bis 2020 – wären die Karrieren von drei verschiedenen Quarterbacks. Mutmaßlich würden alle drei in die Hall of Fame aufgenommen werden. Tom Brady hat also in seinen 21 Jahren in der NFL drei HOF-Karrieren hingelegt!

So absurd diese Zahlen auch sind – und das ist nur eine kleine Auswahl aus dem Rekordbuch des Tom Brady – die Kritiker wollten einfach nicht verstummen. Die Frage, inwiefern all diese Erfolge tatsächlich am Spielmacher der Patriots festzumachen sind, konnte bis heute nicht wirklich beantwortet werden. Es ist wie mit dem Ei und der Henne… Hat Brady die Patriots hauptverantwortlich zum Seriensieger gemacht? Oder hat die perfekt geölte Maschinerie der Franchise, dirigiert von Headcoach Bill Bellichik, den 199. (!) Pick des Drafts 2000 zu diesem Überathleten gemacht, als der er heute in den Himmel gelobt wird. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte.

Brady hatte nichts mehr zu beweisen und alles erreicht. Seinen GOAT-Status konnte ihm schon vor der laufenden Saison niemand streitig machen. Dennoch entschied er sich für einen Tapetenwechsel. Er verließ die warmen Fittiche von Bellichik und den Pats in Richtung Florida. Neues Team, neue Conference, eine neue Herausforderung. Mit 43 Jahren! Er ist zwar weder in die Heimat zurückgekehrt à la LeBron James, noch hat er eine No-Name-Truppe auf seine Schultern gepackt. Bei den Buccaneers hat er eine überragende Defense, einen guten Coach und gefährliche Offensiv-Waffen im Rücken. Aber die Bucs brauchten einen Anführer, der das Team auf das nächste Level heben kann. Brady hat in Tampa geschafft, was nach einer holprigen regulären Saison kaum jemand für möglich gehalten hätte. Sollten die Buccaneers tatsächlich den Super Bowl im heimischen Raymond James Stadium gewinnen, wäre es ein weiteres Kapitel in der Heldengeschichte des Tom Brady. Mit Drew Brees und Aaron Rodgers hat er in den letzten Wochen schon zwei andere Quarterback-Legenden aus dem Weg geräumt. Ein weiterer Sieg heute Nacht gegen die Chiefs würde endgültig die letzten Fragezeichen hinter Bradys Legendenstatus ausradieren.

Das will Patrick Mahomes um jeden Preis verhindern. So unvorstellbar es auch sein mag, dass ein anderer Quarterback die riesigen Fußstapfen von Tom Brady ausfüllen kann – Mahomes ist auf dem besten Weg. Der 25-Jährige hat heute Nacht die Chance auf die Titelverteidigung mit den Chiefs. Zwei Titel, womöglich zwei Super-Bowl-MVP-Awards sowie seine Auszeichnung zum wertvollsten Spieler der regulären Saison 2018 – Mahomes könnte morgen mit einem Hall-of-Fame-Résumé in den wohlverdienten Urlaub fahren – mit 25 Jahren! Mahomes spielt wie ein im Labor gezüchteter Quarterback-Prototyp: Dynamik, Spielverständnis, ein beeindruckender Wurfarm. Aber nicht nur wegen ihres Star-Quarterbacks gehen die Chiefs als Favorit ins Rennen um die Vince Lombardi Trophy. In Kansas hat Mahomes mit Andy Reid einen genialen Coach an seiner Seite sowie mit Travis Kelce und Tyreek Hill zwei elitäre Anspielstationen, die an guten Tagen jede Defense an den Rand der Verzweiflung bringen. Beim ersten Duell mit Bradys Buccaneers in dieser Saison ging Kansas City mit 27:24 als Sieger vom Feld, der Spielverlauf sprach jedoch eine deutlichere Sprache. Mit einer 17-Punkte-Führung im Rücken ließen es die Chiefs im letzten Viertel sehr locker angehen, entschieden die Partie am Ende aber dennoch für sich. Hill erzielte drei Touchdowns gegen die überforderte Bucs-Defense – ein Vorgeschmack auf das erneute Aufeinandertreffen heute Nacht?

Spätestens in der vergangenen Saison hat Mahomes eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass er ein Team bis an die Spitze führen kann. Auf dem Weg zur zweiten Meisterschaft der Franchise-Geschichte lagen die Chiefs in den Playoffs gleich dreimal deutlich zurück – und bezwangen dennoch die Texans (51:31), die Titans (35:24) und schließlich die 49ers (31:20). Für seine unfassbaren Leistungen wurde der Chiefs-Superstar mit einem Zehn-Jahres-Vertrag belohnt. Klar, 503 Millionen Dollar würden wohl die wenigsten ablehnen. Aber seine Unterschrift drückte noch etwas anderes aus: Vertrauen. Vertrauen, dass seine Franchise ihn auch in den kommenden Jahren in eine Position bringen wird, aus der er sie zu weiteren Triumphen führen kann.

Großmeister Brady im direkten Duell zu schlagen, wäre in doppelter Hinsicht das i-Tüpfelchen auf Mahomes‘ zweiter Meisterschaft. Zum einen hätte er seine Revanche für 2019, als Brady und die Patriots ihn davon abhielten, noch früher Geschichte zu schreiben. Zum anderen könnte er sich nach nur vier NFL-Saisons einen Platz in den elitärsten Quarterback-Kreisen der Ligageschichte verdienen. Er würde endgültig das Spielmacher-Zepter von Brady übernehmen. Patrick Mahomes ist einer der talentiertesten Quarterbacks aller Zeiten, darüber gibt es keine zwei Meinungen. Wenn er so weitermacht wie bisher, wird er auch einer der erfolgreichsten werden. Ein Triumph im Super Bowl LV über Tom Brady und die Buccaneers wäre ein riesiger Schritt in diese Richtung. Überflügelt der Lehrling den Meister? Oder hat dieser noch eine letzte Lektion zu erteilen?

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