Das Trainer-Karussell in der Bundesliga dreht sich schneller denn je. Adi Hütter zu Gladbach, Marco Rose zu Dortmund, Edin Terzic könnte demzufolge bei einem anderen Club landen – zum Beispiel Wolfsburg, wo ein Verbleib von Oliver Glasner unwahrscheinlich scheint. Die höchsten Wellen schlug aber eine Personalie: Julian Nagelsmann. Der junge Coach wird RB Leipzig nach der laufenden Saison in Richtung München verlassen – und zwar für eine Rekordablöse von bis zu 25 Millionen Euro. Bei jedem Deal dieser Art wird obligatorisch über Gewinner und Verlierer spekuliert. Eine Übung, die bei diesem Transfer vergleichsweise leichtfällt. Gewinner: Julian Nagelsmann, Bayern München. Verlierer: der Rest der Bundesliga.
Seit Jahren eilt den Bayern der Ruf voraus, man würde die Konkurrenz gezielt schwächen, um die eigene Vormachtstellung zu untermauern. Meistens ist mir diese Kritik zu stumpf, in diesem Jahr lässt sie sich allerdings nur schwerlich von der Hand weisen. Denn der Nagelsmann-Deal macht eines erschreckend deutlich: Der Rekordmeister hat sich monatelang selbst torpediert, innenpolitische Machtkämpfe und Scharmützel eskalieren lassen, den erfolgreichsten Trainer der Vereinsgeschichte vergrault – und dennoch wird man die unangefochtene Branchenprimus des deutschen Fußballs sein, wenn das Eröffnungsspiel der Saison 2021/22 angepfiffen wird. Selbst nach einer Saison, die nach dem an der Säbener Straße gängigen Maßstab in der Kategorie „Eigentlich enttäuschend, aber wenigstens sind wir Meister“ anzusiedeln ist, werden die Münchner ihren Vorsprung zur Konkurrenz noch weiter vergrößern.
RB Leipzig schwang sich in den letzten zwei Jahren unter Julian Nagelsmann zum gefährlichsten Bayern-Verfolger auf. Und jetzt? Jetzt wechselt der Heilsbringer auf der Trainerbank nach München, ebenso wie Abwehrchef Dayot Upamecano – für zusammen fast 70 Millionen Euro. Bei solchen Summen wird man offensichtlich selbst an der Spitze des Red-Bull-Imperiums schwach. Einige aktuelle RB-Spieler könnten es zudem Upamecano gleichtun und den Verein verlassen. Ibrahima Konaté, Marcel Sabitzer, Peter Gulácsi, Emil Forsberg – einige Namen werden schon jetzt heiß gehandelt. Wie der Kader aussieht, den Nagelsmann-Nachfolger Jesse March zu Saisonstart vorfinden wird, steht größtenteils noch in den Sternen. Genau wie die Frage, wer den scheidenden Sportdirektor Markus Krösche beerben wird. Den Roten Bullen steht ein umfangreicher Umbruch bevor – an die Meisterschale ist vorerst nicht mehr zu denken.
Natürlich ist der Nagelsmann-Coup nicht einfach nur ein Fall von „Die Bayern kaufen die Liga kaputt“. Selbst wenn man außer Acht lässt, dass der 33-Jährige als Bayern-Fan in der Nähe von München aufgewachsen ist, hätte ihn sein Karrierepfad wohl früher oder später in die Allianz Arena geführt. Leipzig, Dortmund und Co. sind nicht die Endstation für Spieler oder Trainer mit Weltklasse-Format – Bayern schon. Nagelsmann, der vor fünf Jahren bei der TSG Hoffenheim zum jüngsten Cheftrainer der Bundesliga-Geschichte wurde, hat RB Leipzig als Sprungbrett genutzt. Gleiches gilt für Upamecano, oder für Erling Haaland und Jadon Sancho beim BVB. Der FC Bayern München ist für Nagelsmann kein weiteres Sprungbrett, sondern der große, glamouröse Pool. Ab der kommenden Saison wird er den schwierigsten, aber zugleich prestigeträchtigsten und lukrativsten Trainerjob im deutschen Vereinsfußball ausüben. Die Liste der Clubs, die in der weltweiten Nahrungskette noch über dem FC Bayern stehen, ist sehr kurz. Mit nur 33 Jahren hat sich Nagelsmann eine Chance verdient, auf die die meisten seiner Kollegen ein Leben lang vergeblich warten.
Dass der „Baby-Mourinho“ das Potenzial hat, den Serienmeister besser zu machen als in dieser Saison, steht für mich außer Frage. Ich halte den 33-Jährigen schon jetzt für einen der besten deutschen Trainer. Während Hansi Flick nur in Ausnahmesituationen von dem in München alteingesessenen 4-2-3-1-System abwich, zeichnet sich Nagelsmanns Spielidee vor allem durch Variabilität aus. Bei RB schickte er häufig eine defensive Dreier- bzw. Fünferkette auf den Rasen, hatte aber auch die klassische Viererkette im Repertoire. Im Mittelfeld sah man mitunter eine Raute, die in der zweiten Halbzeit schon wieder eine Doppelsechs sein konnte. Offensiv agierten die Leipziger unter Nagelsmann mal mit falscher, mal mit echter Neun – sogar eine inzwischen eher aus der Mode gekommene Doppelspitze wurde hin und wieder ausgekramt. Mit seiner immensen taktischen Kompetenz dürfte Nagelsmann auch in München erfolgreich sein, zumal er einen deutlich besseren Kader mit zahlreichen flexibel einsetzbaren Stars vorfinden wird. Außerdem wird ihm in die Karten spielen, dass seine grundsätzliche Philosophie – Dominanz, hohes Verteidigen, aggressives Pressing – viele Parallelen zu der von Hansi Flick und anderen ehemaligen Bayern-Trainern aufweist.
Ein weiterer wichtiger Stichpunkt auf Julian Nagelsmanns Visitenkarte ist defensive Stabilität, zuletzt das Sorgenkind des Rekordmeisters. RB stellt in dieser Saison mit 25 Gegentoren die mit Abstand beste Defensive der Bundesliga. Die Münchner hingegen kassierten in der Liga bereits 40 Treffer und haben es hauptsächlich defensiven Schwächen zu verdanken, dass sie DFB-Pokal- und Champions-League-Spiele nur noch vom Sofa aus verfolgen können. Selbst nach den bevorstehenden Abgängen von David Alaba und Jérôme Boateng wird man sich nicht über mangelnde Qualität des defensiven Personals beschweren können. Generell ist davon auszugehen, dass die Münchner Bosse akribisch auf der Suche nach potenziellen Verstärkungen sind. Die laufende Saison dürfte Sportvorstand Hasan Salihamidžić und seinen Vorgesetzten klargemacht haben, dass man mit Douglas Costa und Bouna Sarr auf der Ersatzbank nicht die Champions League gewinnen kann.
Da aber das Portemonnaie in Corona-Zeiten selbst in München etwas schmaler geworden ist, dürfte es nicht zu einem tiefgreifenden Umbruch kommen. Für Nagelsmann sollte das kein Problem sein. Erstens ist der Bayern-Kader (zumindest in der Spitze) noch immer einer der besten Europas, zweitens war der 33-Jährige schon in Hoffenheim und Leipzig dafür bekannt, aus seinen personellen Ressourcen das Maximum herauszuholen. Traditionell hat ein Trainer an der Säbener Straße kein nennenswertes Mitspracherecht bei der Transferpolitik, das wird sich auch bei Nagelsmann nicht drastisch ändern. Aber die Rekordablöse und der Fünf-Jahres-Vertrag sind Vertrauensbeweis und Vorschusslorbeeren zugleich. Die Bayern-Bosse scheinen zu wollen, dass der junge Trainer in München eine neue Ära einläutet und diese federführend mitgestaltet.
Auf nationaler Ebene wird das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelingen. Die neunte Meisterschaft in Serie ist in trockenen Tüchern und es spricht aktuell wenig dagegen, dass aus diesen neun Schalen in den nächsten Jahren zehn, zwölf oder 15 werden. Doch eine Meisterschaft reicht nicht, dafür ist das bayrische Selbstverständnis zu sehr auf Erfolg ausgerichtet. Nagelsmann wird auch an seinen internationalen Erfolgen gemessen werden, immerhin beerbt er den Sextuple-Trainer. Die Bayern werden auch in der kommenden Champions-League-Saison zu den Favoriten zählen. Im deutschen Vergleich sind sie längst enteilt. Die Hoffnung, dass die Leipzigs und Dortmunds der Bundesliga sie zeitnah einholen, schwindet mit jedem Jahr mehr. Die Verpflichtung von Julian Nagelsmann ist eine weitere Machtdemonstration, die das Monopol des Rekordmeisters unterstreicht.