Liverpool 2.0?

Die These, die ich am Ende dieses Textes zum Besten geben werde, ist für viele bestimmt etwas verwunderlich. Oder besser gesagt: Das Timing ist verwunderlich. Denn der FC Chelsea hat erst vor ein paar Tagen (schon wieder) bei der 1:4-Niederlage in München – vorsichtig formuliert – die Grenzen aufgezeigt bekommen. Aus den beiden Partien gegen den deutschen Rekordmeister sollte man aber nicht die falschen Schlüsse ziehen. Denn erstens sind die Bayern im Moment einfach unfassbar gut. Und zweitens haben die Blues in ihrer ersten Saison unter der Leitung von Coach Frank Lampard viele Erwartungen übertroffen.

Kaum jemand hatte es Lampard und seinem Team zugetraut, am Ende der Premier-League-Saison auf dem vierten Platz zu landen. Nach den Abgängen von Trainer Maurizio Sarri und Superstar Eden Hazard rechnete man eigentlich mit etwas, dass man in der NBA einen „Rebuild“ nennen würde. Aufgrund der von der FIFA verhängten Transfersperre konnte Chelsea keine neuen Spieler kaufen und war zu etwas gezwungen, das an der Stamford Bridge in den Jahren zuvor eher selten praktiziert worden war: Sie mussten auf junge Talente bauen. Noch dazu übernahm mit Frank Lampard jemand das Steuer an der Seitenlinie, der zwar eine Club-Legende ist, jedoch über kaum nennenswerte Erfahrung als Coach verfügte. Chelsea-Fans bereiteten sich mental schon auf eine enttäuschende Saison vor.

Wie wir nun aber wissen, ist es ganz anders gekommen. Chelsea hat sich mit teils begeisterndem Tempofußball direkt für die Champions League qualifiziert und das F.A.-Cup-Finale erreicht. Frank Lampard hat aus dem Kader eine vielversprechende Mannschaft geformt, die offensiv regelmäßig stark agiert hat. (Die Betonung liegt hier aber auf „offensiv“, mehr dazu später.) Mason Mount (21), Tammy Abraham (22), Christian Pulisic (21), Callum Hudson-Odoi (19), Billy Gilmour (19) – die Liste von talentierten Mittelfeldspielern und Angreifern an der Stamford Bridge ist lang. Eine solche Ansammlung von so jungen potenziellen Weltklassespielern ist europaweit einzigartig. Ich glaube, vielen ist gar nicht bewusst, wie groß das Potenzial dieser Jungs ist. Darüber hinaus scheint nach einer längeren Durststrecke am Transfermarkt der Geldbeutel von Besitzer Roman Abramowitsch wieder lockerer zu sitzen. Mit Timo Werner und Hakim Ziyech wurden bereits zwei Stars verpflichtet, die sehr gut in diese Spektakel-Truppe passen. Und auch die Zeichen für einen Wechsel von Kai Havertz nach London verdichten sich immer mehr.

Der Blick von Frank Lampard richtet sich nun also in die Zukunft. Denn der Weg, den der 42-Jährige mit dieser Mannschaft eingeschlagen hat, soll noch lange nicht zu Ende sein. Ein Club wie Chelsea hat den Anspruch, auf dem Premier-League-Thron zu sitzen. Dieser Thron gehört im Moment einem Verein, der vor gerade einmal drei Jahren noch in einer sehr ähnlichen Situation war. Und der es den Blues vorgemacht hat, wie man sich aus dieser Situation heraus innerhalb kürzester Zeit an die (Welt)spitze setzt. Die Rede ist natürlich vom FC Liverpool.

In den ersten Jahren der Amtszeit von Jürgen Klopp in Liverpool war dessen Mannschaft nämlich genau das, was Lampards Chelsea momentan ist: ein spannendes Team mit zahlreichen interessanten Spielern. Für den ganz großen Wurf reichte es aber damals noch nicht. Das hatte vor allem zwei Gründe: mangelnde defensive Qualität und Probleme gegen tiefstehende Gegner. An diesen beiden Schrauben hat Klopp gedreht – und damit die Reds auf ein komplett neues Level gehoben. Ähnliches könnte auch Lampard an der Stamford Bridge gelingen. 287 Kilometer nordwestlich hat ihm der FC Liverpool den Weg gezeigt.

Bezüglich des ersten Problems musste sich Jürgen Klopp nichts Geniales aus dem Ärmel schütteln. Die Lösung lag auf der Hand: Man musste (viel) Geld in die Hand nehmen. Wenn man für zusammen fast 150 Millionen Euro Alisson ins Tor und Virgil van Dijk in die Innenverteidigung stellt, dann wird die Defensive besser. Eine simple und logische Formel. Geld schießt – oder in diesem Fall verhindert – eben doch manchmal Tore. Die gute Nachricht für die Blues: Dieser Schlüssel passt auch in ihr Schloss. Mit Reece James hat Chelsea einen 20-Jährigen in seinen Reihen, der schon bald zu den besten Rechtsverteidigern der Welt gehören könnte. Aber ohne Antonio Rüdiger und Co. zu nahe treten zu wollen: Dahinter wird es in der Defensivabteilung schon ziemlich dünn. Größere Investitionen in diesen Mannschaftsteil könnten ein wichtiger Schritt auf Chelseas Weg sein.

Für das zweite Problem eine einzelne Lösung Liverpools hervorzuheben, ist eigentlich nicht möglich. Klopp hat unzählige Taktiken implementiert, die den LFC zu der aktuell komplettesten Mannschaft der Welt gemacht haben. Aber an einem Kniff lässt sich das ganz gut veranschaulichen: Mit der Zeit trainierte es Klopp seiner Mannschaft an, im Spielaufbau die Außenverteidiger vermehrt einzubinden. Mit Trent Alexander-Arnold und Andrew Robertson besetzte er diese Positionen ideal. Tiefstehende Gegner können so von den Reds leichter auseinandergezogen werden, was Mo Salah, Sadio Mané und Co. mehr Räume im Zentrum verschafft. Seitdem dieses taktische Element funktioniert, ist es viel schwieriger geworden, die Reds durch Mauern zu stoppen. Diesen Lösungsweg eins zu eins zu kopieren, wird für Chelsea kaum möglich sein. Reece James ist ein sehr talentierter Spieler, der aber momentan noch nicht an die Klasse eines Alexander-Arnold herankommt. Und wer soll die Robertson-Rolle auf der linken Seite übernehmen? Emerson? Der geordnete Spielaufbau über die Außenverteidiger ist ein Mittel, das Chelsea bereits anwendet. Gegen defensiv eingestellte Gegner haben sie dennoch große Schwierigkeiten.

Genau hier liegt das größte Fragezeichen hinter der Chelsea-kann-das-neue-Liverpool-werden-Theorie: Jürgen Klopp ist ein genialer Trainer – vielleicht der beste der Welt. Dass Frank Lampard das Ballbesitzspiel (und allgemein das System) seiner Mannschaft entscheidend weiterentwickeln kann, muss er noch unter Beweis stellen. Es lässt sich schlichtweg noch nicht mit Sicherheit behaupten, dass Lampard ein sehr guter Trainer ist, der eine Weltklasse-Mannschaft formen kann. Der 42-Jährige ist für Verein und Fans eine Identifikationsfigur und ein Vorbild für viele seiner Spieler. Vielleicht saßen die Jungs aus der Chelsea-Akademie sogar zusammen vor dem Fernseher, als Lampard mit den Blues 2012 Champions-League-Sieger wurde. Aber wie gut ist er als Trainer wirklich? Was hat er taktisch im Köcher? Seine Mannschaft ist in Sachen (Gegen)pressing und Konter schon jetzt auf einem guten Weg. Das hat aber für Liverpool auch nicht gereicht.

Somit bin ich bei meiner angekündigten These angelangt. Denn ich glaube, Frank Lampard und der FC Chelsea haben das Zeug dazu, das neue Liverpool zu werden. Was Jürgen Klopp bei den Reds aufgebaut hat, ist einzigartig und wird sich nicht kopieren lassen. Und das sollte auch nicht der Anspruch von Lampard sein. Aber ich bin davon überzeugt davon, dass Chelsea mit den richtigen Transfers – vor allem in der Defensive – und der ein oder anderen Weiterentwicklung des schon jetzt vielversprechenden Systems einen großen Schritt nach vorne machen kann. Ich denke, dass sie schon in den nächsten Jahren den Schwergewichten aus Manchester und Liverpool ernsthafte Konkurrenz machen können. Und auch in der Champions League sehe ich sie bald wieder im engeren Favoritenkreis. Es würde mich nicht wundern, wenn wir in absehbarer Zeit vom FC Chelsea als Liverpool 2.0 sprechen.

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