
Am 8. März 2017 blamierte sich Paris Saint-Germain bis auf die Knochen. Nach einem 4:0-Heimsieg über den FC Barcelona im Hinspiel des Champions-League-Achtelfinales standen die Franzosen mit mindestens eineinhalb Beinen in der nächsten Runde. Doch die Zuschauer im Camp Nou erlebten an jenem 8. März beim 6:1-Erfolg der Katalanen einen der denkwürdigsten Abende der Fußballgeschichte – und PSG das größte Debakel der katarischen Ära.
Fünf Jahre später, fast auf den Tag genau, ist ein noch höherer Gipfel der Enttäuschung erreicht. Innerhalb von drei Minuten fiel das Pariser Kartenhaus der Superstars im Estadio Santiago Bernabéu auf spektakulärste Art und Weise in sich zusammen. Eine derartige Implosion sucht in der Geschichte der Königsklasse ihresgleichen. Als Karim Benzema sein drittes Tor des Abends erzielte, zehn Sekunden (!) nach dem auf das 2:1 folgenden Anstoß, und in dem Fußballtempel im Herzen Madrids alle Dämme brachen, schaute man auf dem Rasen in ratlose, gar verzweifelte, Pariser Gesichter.
Ich will an dieser Stelle keineswegs die Leistung von Real Madrid schmälern. Die Königlichen erinnerten die Welt daran, warum sie vier der letzten acht Champions-League-Titel gewannen. Die offensichtlich unerschöpfliche Genialität von Luka Modrić und der Killerinstinkt von Benzema waren wichtige Faktoren für den Triumph des weißen Balletts. Doch vor allem spielten sich die Gastgeber in der zweiten Halbzeit in einen kollektiven Rausch – ein Kunststück, das wir aus den letzten Jahren nur allzu gut kennen. Von den Routiniers, die in ihrer Karriere schon alles gewonnen haben, bis hin zu den hungrigen Youngstern – jeder einzelne Spieler kannte seine Rolle und war dazu bereit, diese auszufüllen. Der Kontrast zu PSG hätte größer nicht sein können.
Denn so stark die Leistung der Königlichen in der letzten halben Stunde dieses Duells auch war, einen halbwegs stabilen Gegner hätten sie nicht in diesem Maße überrollen können. PSG war drei Halbzeiten lang die klar bessere Mannschaft und stellte eindrucksvoll unter Beweis, was diese Truppe so gefährlich macht. Im Hinspiel spielte man Real förmlich an die Wand, eine Demonstration der Stärke, die jedoch erst spät durch einen Geniestreich von Kylian Mbappé ihre verdiente Krönung erhielt. Ausgerechnet der Mbappé, über dessen absehbaren Wechsel nach Madrid die ganze Fußballwelt schon seit Monaten spricht. Der Mbappé, der über weite Strecken dieser beiden Partien wie der beste Spieler des Planeten aussah, nur um in den entscheidenden letzten Minuten unterzutauchen.
Die Schlussphase war aus Pariser Sicht ein Trauerspiel. Mit einem Tor hätte man sich zumindest noch in die Verlängerung retten können. Doch von einem durch die Mannschaft gehenden Ruck war nichts zu spüren. Das Wort „Mannschaft“ ist ohnehin in diesem Fall zu hoch gegriffen. Der Gegner in Weiß, DAS war eine Mannschaft, eine starke Einheit, die sich auf gut Deutsch den Allerwertesten aufriss. Angeführt von anerkannten Leadern – Benzema, Modrić, David Alaba. PSG hingegen bestand aus drei Superstars, von denen zwei weit unter ihren Möglichkeiten blieben, und den restlichen Spielern. An solchen Abenden, an denen beide Trainer weit davon entfernt sind, eine taktische Meisterleistung zu vollbringen, sind eben Dinge wie Teamgeist und Wille die entscheidenden Faktoren. Ich versuche so oft wie möglich, Fußballspiele und -teams mithilfe von taktischen Analysen und Statistiken zu entschlüsseln. Aber manchmal ist der Erfolg eben nicht messbar. Manchmal kommt es darauf an, ob man ein echtes Team oder nur eine Ansammlung von Individuen auf den Platz bringt.
Im Vakuum betrachtet ist ein Ausscheiden gegen Real Madrid keine Blamage, auch nicht nach einem 1:0-Sieg im Hinspiel. Dennoch wird dieser Abend allen Beteiligten in Paris noch sehr lange und sehr schwer auf der Seele liegen. Denn die Zeiten der Königsklassen-Debakel sollten eigentlich längst vorbei sein. An jenem 8. März 2017, der als „La Remontada“ in die Fußball-Geschichtsbücher einging, gingen drei der sechs Barça-Tore auf das Konto von Neymar und Lionel Messi. Der damals 18-jährige Mbappé führte Monaco in derselben Saison zur unverhofften Meisterschaft in der Ligue 1, die PSG seit vier Jahren nach Belieben dominiert hatte. Die drei größten Antagonisten einer verkorksten Spielzeit 2016/17 trugen gestern Abend im Bernabéu das Pariser Trikot – plakativer lassen sich die ins Unermessliche gestiegenen Erwartungen nicht darstellen.
Im Sommer 2017, wenige Monate nach La Remontada, läuteten PSG-Boss Nasser Al-Khelaifi und Kohorten mit den Verpflichtungen von Neymar und Mbappé für zusammen fast 400 Millionen Euro (die Ablöse für den Franzosen war erst ein Jahr später fällig) eine neue Zeitrechnung der Absurdität ein. Die eigenen Ansprüche stiegen in astronomische Höhen, die Champions League wurde umso mehr zum übergeordneten Ziel. Nach einem weiteren peinlichen Achtelfinal-Aus gegen Manchester United 2019 – 1:3 in Paris nach 2:0-Auswärtssieg im Hinspiel – schien der Fluch endlich überwunden. 2020 scheiterte man erst im Finale an den Triple-Bayern, 2021 hätte man im Halbfinale gegen Manchester City mit einem fitten Mbappé gute Chancen gehabt, erneut ins Endspiel einzuziehen. Und dann kam natürlich der nächste Sommer der großen Namen – Messi, Sergio Ramos, Gianluigi Donnarumma, Georginio Wijnaldum. Die katarische Führung stellte die auf dem Papier vielleicht beste Elf aller Zeiten zusammen, um im Jahr der Heim-WM das große Ziel endlich zu erreichen.
Umso schockierender ist nun der Kollaps im Bernabéu. Dass Al-Khelaifi und Sportdirektor Leonardo nach dem Spiel angeblich lauthals versuchten, die Schiedsrichter-Kabine zu stürmen, spricht Bände über die Probleme dieses Clubs. (Fürs Protokoll: Ich finde nicht, dass Donnarumma vor dem 0:1 von Benzema gefoult wurde.) Offensichtlich sucht die Führungsetage also die Schuld für die Blamage lieber beim Unparteiischen, als die eigenen Handlungen zu hinterfragen. Schließlich hat man einmal mehr irrwitzige Geldsummen in die Hand genommen und damit ein Star-Ensemble zusammengetrommelt – what could possibly go wrong?
Könnte es womöglich sogar die letzte Chance für dieses sündhaft teure PR-Projekt gewesen sein? Oder zumindest die beste? Mbappé wird sich im Sommer höchstwahrscheinlich Real Madrid anschließen. Messi und Neymar sind nicht mehr die Spieler, die in den letzten Jahren den Weltfußball dominiert haben. Mauricio Pochettino wird vermutlich der nächste Sündenbock sein und seinen Platz auf der Trainerbank für einen Nachfolger räumen, für den die Bewältigung der unzähligen Probleme und Allüren ebenso zur Herkulesaufgabe werden wird. Sicherlich wird man den ein oder andere Taler auftreiben können, um die nächsten Superstars an Land zu ziehen. Aber diese verrückten drei Minuten im Bernabéu, in denen sich all die milliardenschweren Ambitionen in Luft auflösten, haben eins deutlich gemacht: Wenn es Paris Saint-Germain nicht schafft, aus dem Star-Ensemble eine echte Mannschaft zu formen, ist die nächste Blamage in der Königsklasse nur eine Frage der Zeit.