Extrablatt, Extrablatt! Die MixedZone wird für die kommenden Wochen zur EuroZone umfunktioniert. Vor jeder K.o.-Runde des Turniers äußere ich an dieser Stelle drei Gedanken zum EM-Geschehen. Die heutige wird die letzte dieser Ausgaben sein. Das Finale steht an: Italien fordert England in Wembley. Wer setzt sich die kontinentale Krone auf?
1: Beide Mannschaften mussten um den Einzug in dieses Endspiel bangen. Die Italiener nahmen in einem ansehnlichen Fußballspiel gegen Spanien eine ungewohnt passive Rolle ein und setzten sich erst im Elfmeterschießen durch. Die Spanier – allen voran der einmal mehr atemberaubend starke Pedri – dominierten das Geschehen über weite Strecken. Deutlich mehr Ballbesitz (69:31 Prozent), mehr Schüsse aufs Tor (16:7) und ein xG-Vorsprung von 1.3 (1.7:0.4) sprachen für einen Triumph der Furia Roja. Doch der Blick auf den Rasen des Wembley Stadium spiegelte nicht unbedingt das statistische Bild einer spanischen Dominanz wider. Die Italiener wirkten nicht eingeschnürt oder gar hilflos – trotz geringer Spielanteile strahlten sie eine spürbare Ruhe aus, die eigentlich nicht im Verhältnis zu dem Erfahrungsschatz dieser Truppe steht. Gut, die beiden Innenverteidigungsprofessoren Bonucci und Chiellini vielleicht ausgeklammert. Auch wenn Roberto Mancini und sein Team den Top-Favoriten aus Frankreich und Portugal aus dem Weg gegangen sind, stehen sie meiner Meinung nach hochverdient im Finale. Mit Belgien und Spanien wurden zwei weitere Mitfavoriten ausgeschaltet und dabei weiterhin der mutmaßlich attraktivste Fußball aller Nationen bei diesem Turnier gespielt. Die Squadra Azzurra geht zwar de facto als Auswärtsteam in das Endspiel um den Europameistertitel, sollte aber auf keinen Fall als Underdog betrachtet werden.
2: Die Engländer konnten ihre Souveränität, die zum 4:0-Sieg über die Ukraine geführt hatte, im Halbfinale gegen Dänemark nicht aufrechterhalten. Zwar kam man nach dem 0:1-Rückstand verdientermaßen zum Ausgleich, brauchte dann aber einen mehr als strittigen Elfmeterpfiff, um nach 120 Minuten als Sieger vom Platz zu gehen. Wie dem auch sei, England steht im EM-Finale und wird dieses als Heimspiel austragen. Für die Engländer ist es das erste große Endspiel seit der WM 1966 und das erste Mal überhaupt, dass sie es ins Finale einer Europameisterschaft geschafft haben. Ich habe an dieser Stelle schon erwähnt, dass ich kein Fan des pragmatischen Ansatzes bin, mit dem die Three Lions dieses Endspiel erreicht haben. Als Liebhaber von #TheBeautifulGame tut es einem in der Seele weh, wenn ein mit so vielen aufregenden Fußballern gespickter Kader solche behutsamen, ja zum Teil gar langweiligen, Vorstellungen zeigt. Aber der Erfolg gibt Gareth Southgate (leider) Recht, also warum sollte er im Finale gegen Italien von seiner Philosophie abrücken?
Eine große Frage vor jedem Spiel der Engländer: Dreier- oder Viererkette? Southgate könnte diese Antwort für das kommende Finale bereits gegen Dänemark gegeben haben. Denn im Halbfinale am Mittwochabend ließ sich phasenweise beobachten, wie sich Declan Rice von seiner Startposition auf der Doppelsechs (oder im Dreier-Mittelfeld, je nach dem, ob England gerade im 4-3-3 oder 4-2-3-1 positioniert war) neben John Stones und Harry Maguire fallen ließ und als dritter Innenverteidiger fungierte. Gegen den Ball wurde also aus der Vierer- im Handumdrehen eine Fünferkette. Das könnte gegen die Italiener, die gerne mit fünf Spielern in vorderster Front attackieren (darauf bin ich zuletzt vor dem Halbfinale eingegangen), ein probates Mittel sein. Ansonsten wird es für England vor allem darauf ankommen, sich gegen das hohe Pressing der Mancini-Truppe keine fahrlässigen Ballverluste zu erlauben und die Freiheiten von Insigne, Verratti und Barella in den Halbräumen einzuschränken.
3: Heute Abend wird nicht nur der Europameister, sondern auch der Spieler des Turniers gekürt werden. Egal, wie das Finale ausgeht, dürfte Raheem Sterling der Favorit auf diese Auszeichnung sein. Der Flügelflitzer von Manchester City war der herausragende Mann und die prägende Figur der Engländer bei diesem Turnier. Was wäre es für eine Geschichte, wenn ausgerechnet Sterling, der in den letzten Jahren wie kein anderer Engländer als Sündenbock für die Verfehlungen der Nationalmannschaft herhalten musste, sein Land zum lang ersehnten EM-Titel führen würde? Und dann auch noch in dem legendären Stadion, in dessen Schatten er aufgewachsen ist. Solche Geschichten schreibt nur der Sport, so die romantische Redewendung. Der 26-Jährige erzielte gegen Kroatien, Tschechien und Deutschland jeweils das 1:0, bereitete den Führungstreffer gegen die Ukraine vor und war auch gegen Dänemark an beiden Toren entscheidend beteiligt, indem er das Eigentor von Simon Kjær durch seinen Laufweg provozierte und den Elfmeter herausholte. Sterling wird auch im Finale gegen Italien wieder der offensive Schlüsselspieler der Three Lions sein und könnte erneut den Unterschied ausmachen. Die Auszeichnung zum besten Spieler des Turniers wäre ihm in diesem Fall nicht mehr zu nehmen.
Selbst wenn Italien Europameister wird, dürfte Sterling als herausragender Akteur eines Finalisten der Favorit auf den Award sein. Bei den Italienern fehlt der eine Ausnahmespieler bei diesem Turnier einfach, vielmehr kommen sie komplett über das Kollektiv. Wenn nicht gerade Federico Chiesa, der bereits zwei wichtige Tore in der K.o.-Phase machte, das Endspiel mit einem Doppelpack im Alleingang entscheidet, wird wohl keinem der Azzurri diese Ehre zuteilwerden. Ein weiterer Kandidat wäre Harry Kane, der zwar in meinen Augen bislang kein sonderlich gutes Turnier spielt, aber immerhin viermal getroffen hat. Sollte der englische Kapitän im Finale eine bärenstarke Leistung abliefern und nochmals treffen, könnte auch er den goldenen Ball abräumen.