EM-Gedanken (3)

Extrablatt, Extrablatt! Die MixedZone wird für die kommenden Wochen zur EuroZone umfunktioniert. Vor jeder K.o.-Runde des Turniers äußere ich an dieser Stelle drei Gedanken zum EM-Geschehen. Italien, Spanien, England und Dänemark sind noch im Rennen um den Titel. Man darf sich berechtigte Hoffnung auf zwei interessante Halbfinals machen.

1: Die italienischen Fahnen wehen stärker denn je. Die Winde der Euphorie sind ein Produkt von ansehnlichem Fußball, einem stark besetzten Kader und einer mannschaftlichen Mentalität, die ihren Höhepunkt bereits während der ersten Töne der Nationalhymne erreicht. Auch von den auf dem Papier mindestens ebenbürtigen Belgiern ließ sich die Squadra Azzurra nicht aufhalten und marschiert weiter unbeirrt in Richtung EM-Titel. Roberto Mancini hat aus seinen Schützlingen das stärkste Team des bisherigen Turniers geformt, das nun gegen Spanien als leichter Favorit auf den Einzug ins Endspiel gelten sollte. Der Ausfall von Leonardo Spinazzola dürfte italienischen Fans jedoch Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Der Mann von der AS Rom, der sich gegen Belgien eine Achillessehnenverletzung zugezogen hat, war bei dieser EM einer der Schlüsselspieler der Azzurri. Unermüdlich beackerte er die linke Außenbahn und war ein essenzieller Bestandteil des italienischen Positionsspiels. Mit Spinazzola, Lorenzo Insigne, Ciro Immobile, Nicolò Barella und Federico Chiesa/Domenico Berardi ließ Mancini sein Team oftmals mit fünf Spielern die letzte Linie der gegnerischen Defensive attackieren. Durch den Ausfall des 28-jährigen Dauerläufers geht ein großer Teil dieser offensiven Wucht verloren. Es ist fraglich, inwiefern Emerson, der in der abgelaufenen Saison nur acht Pflichtspiele für den FC Chelsea absolvierte, die Rolle von Spinazzola übernehmen kann.

2: Einer der vier Halbfinalisten hebt sich eindeutig von den anderen drei ab – zumindest was die Statistik der Torschüsse pro 90 Minuten angeht. Denn mit Italien (18.75), Spanien (17.47) und Dänemark (17.00) haben es die drei Teams in die Runde der letzten Vier geschafft, die am häufigsten den Abschluss suchten. Für den krassen Kontrast sorgen die Engländer mit 7.6 Torschüssen pro 90 Minuten. Nur Finnland und Ungarn (jeweils 6.33) versuchten seltener, den gegnerischen Kasten zu treffen. Eine fast schon erschreckende Statistik für einen Titelanwärter, der bislang in jedem seiner Spiele (deutlich) favorisiert war.

3: Die eben erwähnte Statistik veranschaulicht den pragmatischen Ansatz von Gareth Southgate. Allerdings kann man dem Coach der Three Lions im bisherigen Turnierverlauf kaum einen Vorwurf machen. Einer ermüdenden, aber souveränen Vorrunde folgten verdiente K.o.-Siege gegen Deutschland und die Ukraine. Nach fünf Spielen musste Keeper Jordan Pickford noch immer nicht hinter sich greifen. Jetzt haben die Engländer mit Dänemark ihren bislang stärksten Gegner vor der Brust. (Ja, ich halte Dänemark für einen kniffligeren Kontrahenten als die DFB-Elf.) Es wird spannend sein, die taktische Herangehensweise Southgates zu beobachten. Gegen Deutschland spiegelte er Joachim Löws 3-4-3-Grundordnung, gegen die Ukrainer ließ er eine Viererkette auflaufen. Die Dänen erinnern mit vielen ihrer Ansätze eher an Jogis Jungs als an das Team von Andriy Shevchenko. Die drei Innenverteidiger Simon Kjær, Jannik Vestergaard und Andreas Christensen bilden eine Dreierkette, der überragende Joakim Maehle sowie Jens Stryger Larsen oder Daniel Wass beackern als Flügelverteidiger die Außenbahnen und Thomas Delaney und Pierre Emile Højbjerg sorgen als Doppelsechs für Stabilität im Mittelfeld. Ähnlich wie Kai Havertz oder Thomas Müller es für Deutschland taten, lässt sich Mikkel Damsgaard immer wieder aus der offensiven Dreierreihe fallen, um das Mittelfeld zu überladen. Wird Southgate an dem 4-2-3-1-System festhalten, das gegen die Ukraine die mit Abstand beste Leistung der Engländer bei diesem Turnier zur Folge hatte? Oder passt er sich wieder dem Gegner an und kehrt zurück zum 3-4-3? Ein weiterer spannender Aspekt wird die Anpassbarkeit des englischen Systems sein. Sowohl gegen Wales als auch gegen Tschechien machte Dänemarks Coach Kasper Hjulmand Chelsea-Verteidiger Christensen zwischenzeitlich zum Sechser und stellte während der Partie auf ein 4-3-3-System um. Beide Male zahlte sich dieser Kniff schnell aus. Wie würden die Three Lions reagieren, wenn Hjulmand auch im Halbfinale wieder auf dieses Mittel zurückgreift?

Nicht nur aus taktischer Sicht könnte das Duell zwischen England und Dänemark ein hochinteressantes werden. Auf der einen Seite steht das Mutterland des Fußballs, das die Zeilen des berüchtigten „Football’s Coming Home“ endlich zum Leben erwecken möchte. Auf der anderen Seite der krasse Außenseiter, dessen Turnier spätestens seit dem Schock um Christian Eriksen zu einer Mission für ein ganzes Land geworden ist. Von den 60.000 Fans im Wembley Stadium werden maximal 6.000 (in England lebende) Dänen sein. Die deutsche Mannschaft musste zuletzt am eigenen Leib erfahren, wie einschüchternd diese Konstellation sein kann. Doch die Dänen werden nicht chancenlos sein, davon kann man ausgehen. Die Hoffnung besteht, dass die lange Geschichte des Londoner Fußballtempels um eine weitere, magische Nacht reicher wird.

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