Die Schlange beißt zu

Grenzenloses Potenzial, das Träumen vom ganz großen Wurf – aber dennoch Jahr für Jahr Enttäuschung und Ernüchterung. Peter Wright kennt diese Gefühlswelt nur zu gut. In den 90er-Jahren versuchte er sich erstmals als Profi, kehrte aufgrund von anfänglichen Enttäuschungen aber erst 2007 zurück auf die große Bühne. 2014 stand er erneut kurz vor dem Karriereende, spielte sich dann aber überraschend ins WM-Finale und konnte deshalb weitermachen. 2020, im Alter von 49 Jahren, war es endlich so weit: Wright wurde zum ersten Mal Weltmeister. Im Finale bezwang er ausgerechnet Michael van Gerwen, gegen der er sechs Jahre zuvor noch den Kürzeren gezogen hatte.

Gestern stand Michael Smith kurz davor, genau diesen Moment selbst zu erleben. Der Bully Boy hatte ein fantastisches Turnier hinter sich, inklusive zweier phänomenaler Partien gegen Jonny Clayton und Titelverteidiger Gerwyn Price. Er ging mit einem starken Average (100.6) und einer überragenden Doppelquote (47.6 %) ins Endspiel und war selbst in diesem nur einen Hauch davon entfernt, für die Vorentscheidung zu sorgen. Mit einer 5:4-Führung im Rücken gewann er die ersten beiden Legs des zehnten Satzes – das 6:4 war zum Greifen nahe. Doch dann drehte Peter Wright auf, gewann den Durchgang, glich zum 5:5 aus und marschierte im elften und zwölften Satz schnurstracks in Richtung der 25 Kilogramm schweren Sid Waddell Trophy.

Im elften Satz spielte Snakebite einen Average von 112.7 und brauchte nur drei Versuche auf die Doppelfelder. Im zwölften schraubte er seine durchschnittliche Aufnahme sogar auf 113.6 hoch – bei 75 % (3/4) Doppelquote. Der 51-Jähriger war mit all seiner Erfahrung genau im richtigen Moment zur Stelle. Seine mentale Stärke war beeindruckend: Der desolate erste Satz, die regelmäßigen Buhrufe des Londoner Publikums im Alexandra Palace, der phasenweise bärenstarke Bully Boy – all das ließ ihn augenscheinlich kalt. Erst nach dem verwandelten Matchdart brach es aus ihm heraus, dann war der schillernde Schotte plötzlich ein sichtlich gerührter Normalsterblicher. Wright hatte bei diesem Turnier erst spät seine Top-Form gefunden. Das sensationelle Halbfinale gegen Landsmann Gary Anderson war das erste Spiel, in dem er wirklich zu überzeugen wusste. Selbst im Finale fand er lange nicht zu seinem Rhythmus und wechselte deshalb immer wieder seine Darts – während eines Matches eigentlich unerhört.

Aber mit dem Rücken zur Wand, als es wirklich darauf ankam, war er plötzlich voll da. Manchmal ist genau das die Definition von Weltklasse. Man kann nicht jedes Match, geschweige denn jedes Turnier dominieren. Manchmal kommt es auf diese Momente an, in denen viele nicht mehr an einen glauben. Eines war gestern Abend klar zu erkennen: Peter Wright glaubte felsenfest an sich und seine Fähigkeiten. Er erinnerte seine Kritiker einmal mehr daran, dass man sich von den bunten Haaren, den gemusterten Hosen und der extravaganten Schlange auf der Schläfe nicht beirren lassen sollte. In der (auf der Bühne des Ally Pallys wortwörtlichen) Hitze des Gefechts war Wright die Ruhe selbst – und genau diese mentale Stärke hat ihm seinen zweiten Weltmeistertitel beschert.

An diesen Punkt muss der Bully Boy erst noch kommen. In der entscheidenden Phase der Partie versagten ihm die Nerven, seine zuvor so überragende Doppelquote sank im Endspiel auf 35.4 %. Mit 24 180ern stellte er den Rekord für die meisten optimalen Aufnahmen in einem Match ein, den Wright erst am Vorabend gegen Anderson aufgestellt hatte. Auch seine 83 180er über den kompletten Turnierverlauf hinweg sind ein neuer Rekord. Aber trotzdem waren es keine Freudentränen, die Michael Smith bei der Siegerehrung in die Augen schossen. Der 31-Jährige wirkte fassungslos und tief enttäuscht. Auch der verbale Ritterschlag von Snakebite, dass Smith die Zukunft des Sports sei, zauberte nur ein flüchtiges Lächeln auf seine bärtigen Lippen. Für Smith war es nach 2019 (gegen MvG) die zweite Niederlage in einem WM-Finale. Der Weg in die PDC-Elite war für den Juniorenweltmeister von 2013 zwar weniger steinig als der von Wright, aber auch der Bully Boy musste in seiner Karriere nun schon zahlreiche Rückschläge verdauen.

Welche Eindrücke bleiben also aus diesem Finale? Peter Wright wurde seiner Favoritenrolle gerecht und nutzte die große Chance, die sich ihm durch das frühzeitige Ausscheiden der beiden anderen Top-Favoriten bot. Dass er sich nicht mit van Gerwen (Corona) oder Price (Smith) messen musste, darf zwar nicht unerwähnt bleiben, sollte seine Leistungen aber auf keinen Fall schmälern. Mit Anderson und Smith musste er zwei hochklassige Kontrahenten besiegen – das ist ihm gelungen. Und der Bully Boy? Der wird im Dezember einen neuen Anlauf starten. Auch er hat bei dieser WM bewiesen, dass er in Sachen mentale Stärke und Gelassenheit große Fortschritte gemacht hat. Jetzt wird er versuchen, sich den Killerinstinkt anzueignen, der ihm in diesem Endspiel noch gefehlt hat. Wenigstens hatte er dafür schon gestern die perfekte Lehrstunde.

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