Ich habe in den letzten Tagen einige Stunden damit verbracht, mir Paul-Pogba-Highlight-Videos auf YouTube anzuschauen. Das hat einen simplen Grund: Ich liebe Paul Pogba. In meinen Augen bringt kein anderer Spieler eine so beeindruckende Kombination aus Körperlichkeit, Technik, Spielverständnis und Torgefahr auf den Rasen wie der 27-jährige Franzose. Diese Fähigkeiten haben in bei Juventus Turin schon in jungen Jahren zum Fan-Liebling und in der französischen Nationalmannschaft zu einem Leistungsträger auf dem Weg zum WM-Titel gemacht. Doch bei Manchester United – seinem Arbeitgeber seit 2016 – rechtfertigte Pogba seine astronomische Ablösesumme von 105 Millionen Euro bislang nicht. Was ist passiert, Paul? Warum bist du im Dress der Red Devils nicht der Spieler, in den ich mich verliebt habe?
Der erste Grund, mit dem ich mir die dysfunktionale Beziehung zwischen Paul Pogba und Manchester United erkläre, ist taktischer Natur. Sowohl bei Juventus Turin als auch in der französischen Nationalmannschaft durfte sich Pogba stets auf seine Stärken fokussieren. Ob beim italienischen Rekordmeister an der Seite von Andrea Pirlo, Claudio Marchisio, Arturo Vidal und Co. oder bei der Équipe Tricolore neben Abfang- und Zweikampfmonster N’Golo Kanté – vor allem defensiv hatte Pogba keine allzu großen Lasten zu tragen. Antonio Conte schickte zeitweise sogar Spieler vom Kaliber eines Stefano Sturaro auf den Rasen, um ihm einen Teil seiner Laufarbeit abzunehmen. Didier Deschamps stellte bei der WM 2018 Blaise Matuidi und Corentin Tolisso als nominelle Flügelspieler auf, um bei Pogbas tiefen Läufen das Zentrum abzusichern.
Der 27-Jährige kann seine beste Form augenscheinlich also nur erreichen, wenn er die passenden Spieler an seiner Seite hat, die ihm defensiv den Rücken freihalten (Vidal, Kanté und Co.) und die pragmatische Organisation des Angriffsspiels übernehmen (Pirlo, Marchisio). Bei Manchester United ist genau das Gegenteil der Fall. Dort hat Pogba meistens – wenn er nicht sogar selbst als Ankersechser agieren muss – Nemanja Matić, Fred oder Scott McTominay hinter sich. Keiner dieser drei liefert auch nur annähernd die defensive Stabilität eines Kanté oder Vidal.
Außerdem muss sich Pogba die offensiven Aufgaben aktuell mit Marcus Rashford und Bruno Fernandes teilen. Beide zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie in den Halbräumen die größte Gefahr ausstrahlen. Beide bieten Coach Ole Gunnar Solskjær den größten Mehrwert, wenn sie mit dem Ball am Fuß Chancen für sich und ihre Mitspieler kreieren können. Gleiches gilt aber leider für Paul Pogba – und es wird nur mit einem Ball gespielt. Es ist kein Zufall, dass der 27-Jährige seine mit Abstand beste Saison bei den Red Devils an der Seite von Zlatan Ibrahimović hatte. Der französische Virtuose und der schwedische Gott wussten zwar mit gemeinsamen Kombinationen zu überzeugen, kamen sich aber kaum gegenseitig in die Quere.
Den anderen Grund für Pogbas Leidenszeit in Manchester sehe ich abseits des Feldes. Bei Juventus avancierte er als junger Spieler zum Fan-Liebling und Hoffnungsträger, ohne dass aber jemals von ihm verlangt wurde, die Mannschaft auf seinen Schultern zu tragen. Dann der plötzliche, 105 Millionen Euro schwere Tapetenwechsel. Plötzlich sollte er ein kriselndes Manchester United in tragender Rolle zurück zu altem Glanz führen. Seine extrovertierte Art kam bei den konservativen Premier-League-Fans plötzlich nicht mehr so gut an wie in Italien oder Frankreich. Mit jeder neuen Frisur und jedem Tanz-Video auf Instagram wurde ihm die Leidenschaft für den Fußball noch ein Stück mehr abgesprochen. Ich möchte den Franzosen keineswegs als unschuldig darstellen. Seine Leistungen waren schlichtweg nicht auf dem Weltklasse-Level, auf dem er selbst und seine Fans ihn wähnen. Das muss er sich ankreiden lassen. Einem jungen, aufstrebenden Spieler bei Juventus Turin verzeiht man es, wenn er mal einen schlechten Tag hat. Einem 105-Millionen-Superstar bei Manchester United eher weniger.
Die Leistungen wurden schlechter, die Kritik lauter, das Verhältnis zwischen Spieler und Club schwieriger. Die Lage hat sich inzwischen so sehr zugespitzt, dass eine Trennung unausweichlich scheint – spätestens seitdem Pogbas Berater Mino Raiola öffentlich verkündet hat, dass sein Klient in Manchester keine Zukunft mehr habe. Der 27-Jährige wohl bei einem neuen Verein versuchen, seiner Karriere wieder neues Leben einzuhauchen. Aber wo? In Zeiten von ungewissen Prognosen und leeren Kassen gibt es nur eine Handvoll Spitzenclubs, die sich eine Verpflichtung Pogbas überhaupt leisten könnten. Paris St. Germain ist eine naheliegende Lösung. Der im Schatten des Eiffelturms aufgewachsene Pogba würde in seine Heimat zurückkehren. Allerdings ist fraglich, ob der sportliche Rückschritt von der Premier League in die Ligue 1 nicht ein zu großer wäre. Außerdem ist das Geld selbst bei den Scheichs im Prinzenpark derzeit knapp – für einen Transfer von Pogba müssten wohl zuerst Neymar oder Kylian Mbappé veräußert werden.
Zwei weitere Anwärter auf die Dienste des Franzosen wären der FC Chelsea und Inter Mailand. Bei den Blues muss man sich jedoch fragen, ob Spieler wie Hakim Ziyech oder Kai Havertz nicht ebenso in den Radius von Paul Pogba eindringen würden wie Rashford und Fernandes bei ManU. Spielerisch wäre Inter wohl die bessere Adresse. Zum einen würde Pogba die Wiedervereinigung mit Antonio Conte auf der Trainerbank sicherlich reizen, zum anderen hätte er mit Romelu Lukaku einen Stürmer à la Zlatan vor sich. Auch in Mailand müssten erst finanzielle Fragezeichen ausradiert werden, aber Lautaro Martínez gilt ohnehin als Abgangskandidat, also warum nicht? Ich kann mir Pogba sehr gut in Contes Mittelfeld neben Nicolò Barella und Arturo Vidal (ein weiterer alter Bekannter) vorstellen.
Auch über eine Rückkehr zu Juventus Turin wird schon seit längerer Zeit spekuliert. Neu-Coach Andrea Pirlo kennt Pogba noch aus gemeinsamen Tagen im Juve-Mittelfeld und hält große Stücke auf ihn. Auch der Arbeitgeber von Cristiano Ronaldo schon ungefähr 27 zentrale Mittelfeldspieler im Kader hat – für Pogba würde man vielleicht Platz schaffen.
Ich persönlich würde Paul Pogba am liebsten bei Real Madrid sehen. Zinedine Zidane hätte seinen Landsmann nur zu gerne in seinem Kader, das ist ein offenes Geheimnis. Toni Kroos und Luka Modrić haben den Zenit ihres Schaffens mutmaßlich bereits überschritten. Pogba hätte mit Casemiro den perfekten Läufer und Arbeiter hinter sich und mit Federico Valverde einen dynamischen Partner als Achter. Aber auch dieser Transfer scheint derzeit eher unwahrscheinlich zu sein – auf Reals Wunschliste stehen mit Mbappé und Eduardo Camavinga angeblich zwei andere Franzosen ein paar Zeilen über Pogba.
Auch wenn sich momentan kein bestimmter Transfer aufdrängt, kann ich mir kaum vorstellen, dass Paul Pogba nicht spätestens in der kommenden Saison bei einem Spitzenverein landet. Wo auch immer er landet – ich hoffe sehr, dass Pogba dort eine Situation vorfinden wird, in der er sich wohlfühlt und in der er seine Stärken optimal einbringen kann. So wie bei Juventus, so wie für Frankreich. Sein nächster Vereinswechsel könnte Pogbas letzte Chance sein, sich den Status eines Weltklasse-Spielers zu verdienen. Ich hoffe, dass er sie nutzt.