Es hatte schon fast etwas Poetisches, als Trae Young am 2. Juni im Madison Square Garden zur Verbeugung ansetzte. Im Herzen Manhattens hatte man an jenem Abend die Uraufführung des neuesten NBA-Spektakels erleben können. Ein kleiner, schmächtiger 22-Jähriger hatte soeben mit einem unverschämt tiefen Stepback-Dreier die Saison der New York Knicks endgültig beendet. Trae Young hatte seine Atlanta Hawks über fünf Spiele gegen die Knicks angeführt, die Offense angetrieben und kontrolliert, den Ton angegeben – wie der Dirigent eines Sinfonieorchesters. Statt Applaus flogen ihm an diesem Abend jedoch Buhrufe und Beleidigungen zu, gepaart mit einem gellenden Pfeifkonzert. Doch Young schienen die Anfeindungen der erbosten Knicks-Fans nicht zu stören. Im Gegenteil, er schien sie regelrecht zu genießen. Der Dirigent verabschiedete sich mit einer Verbeugung und läutete damit in der NBA vielleicht die Ära eines neuen Bösewichts ein.
Dass die Hawks nach dem 4-1 über die Knickerbockers auch noch überraschend die Philadelphia 76ers, das beste Ost-Team der Regular Season, in der zweiten Runde in den vorzeitigen Sommerurlaub schickten, rundete die extrem erfolgreiche Spielzeit des jungen Teams gebührend ab. Entsprechend hielt sich die Enttäuschung in Grenzen, als man in den Conference Finals gegen die Milwaukee Bucks ausschied. Ein mehr als holpriger Saisonstart, ein Trainerwechsel kurz vor dem All-Star-Break, eine Verletzungsmisere, die ligaweit ihresgleichen suchte – all das hielt die Hawks nicht von ihrem beeindruckenden Run in die dritte Playoff-Runde ab. Trae Young schüttelte in seiner dritten Saison endlich die Empty-Stats-Vorurteile ab und unterstrich seinen Status als künftiger Superstar. Andere junge Spieler – allen voran De’Andre Hunter – stellten unter Beweis, dass sie in den langfristigen Planungen von General Manager Travis Schlenk eine wichtige Rolle spielen können. Clint Capela war der dringend benötigte Anker einer bis dato schlechten Defense. Zugezogene Free Agents wie Bogdan Bogdanovic und Danilo Gallinari fügten sich schnell in ihre Rollen ein. Dank eines stimmig zusammengestellten Kaders schafften es die Hawks, innerhalb eines Jahres den Sprung vom Rebuilding-Team zum Conference-Finalisten zu schaffen. Dafür gebührt ihnen der größtmögliche Respekt.
Vor der kommenden Saison 2021/22 stellt sich nun natürlich die Frage: Was ist der nächste Schritt für diese Atlanta Hawks? Wir sprechen hier von einem jungen Team, das sich unter dem neuen Erfolgscoach Nate McMillan nun zum ersten Mal in Training Camp und Preseason richtig einspielen kann – angeführt von einem 23-jährigen Point Guard, der noch lange nicht am Ende seiner Entwicklung angekommen sein dürfte. Die Hawks stellten in der Regular Season 2020/21 mit einem Offensivrating von 115.5 die neuntbeste Offensive der NBA, obwohl diese erst unter McMillan in der zweiten Saisonhälfte auf Hochtouren lief. Das andere Ende des Feldes war die größere Baustelle. Die Defense steigerte sich nach dem Wechsel auf der Trainerbank deutlich, landete mit einem Defensivrating von 113.2 im Ligavergleich dennoch nur auf Rang 17. Vor allem defensiv darf man jedoch die Hoffnung haben, dass die Hawks 2021/22 deutlich besser unterwegs sein werden. Mit Hunter und Cam Reddish fielen die beiden besten Perimeter-Verteidiger jeweils lange aus, sodass oftmals zu viel an Capela hängenblieb. Auch in der Offense dürfte im Vergleich zum Vorjahr noch Luft nach oben sein, wenn die wichtigen Spieler fit bleiben und sich die jungen Talente weiterentwickeln können.
Wie hoch sollte man also die Erwartungen schrauben? Die Botschaft der Verantwortlichen in dieser Offseason war klar: Man vertraut weiterhin auf den jungen Kern des Teams. Schlenk und sein Frontoffice haben sich nicht zu größenwahnsinnigen Schachzügen hinreißen lassen, der Kader wurde mit Backup-Guard Delon Wright und Big Man Gorgui Dieng gezielt und sinnvoll verstärkt. Man baut vor allem darauf, dass sich Spieler wie Hunter, Cam Reddish und Onyeka Okongwu weiterentwickeln und man so als Team ein neues Level erreicht.
Allerdings muss man die Frage nach dem Contender-Status der Hawks in diesem Jahr in meinen Augen klar verneinen. Auch wenn die Leistungen gegen Ende der vergangenen Saison Lust auf mehr machten, sollte man bedenken, dass die Matchups gegen New York und Philly aus Hawks-Sicht förderlich waren. Die Knicks-Offense war gelinde gesagt ausbaufähig und litt unter einem desolaten Spacing. Die Sixers waren ein höchst dysfunktionales Team mit einem angeschlagenen Superstar. Das sollte den Respekt vor den Leistungen der Hawks nicht schmälern, aber durchaus als Bremse für verfrüht hohe Erwartungen dienen. Ist Atlanta eine Top-4-Platzierung im Osten und ein tiefer Playoff-Run zuzutrauen? Auf jeden Fall! Kann man es in sieben Spielen mit dem Titelverteidiger aus Milwaukee oder den Brooklyn Nets aufnehmen? Wahrscheinlich nicht. Die beiden Schwergewichte mit ihrer Star-Power sehe ich aktuell deutlich vor den Hawks. Auch die Miami Heat wären mit allen Leistungsträgern an Bord eine hohe Hürde. Aber gegen die meisten anderen möglichen Playoff-Kontrahenten im Osten würde ich Atlanta Stand jetzt sogar die Favoritenrolle zusprechen. Teams wie Philadelphia, Boston oder New York sollten für die Hawks keine allzu furchteinflößenden Gegner sein.
Je nach Matchup könnte in der zweiten Runde Endstation sein, ohne dass man die Saison als Enttäuschung abstempeln müsste. Für Atlanta sollte weiterhin im Vordergrund stehen, das Team bestmöglich um Trae Young herum aufbauen zu können. Wie präsentiert sich John Collins nach seiner Vertragsverlängerung? Kann Okongwu in Zukunft der Franchise-Center sein? Kann Hunter seinen großen Leistungssprung auch nach zwei Meniskus-Verletzungen bestätigen? Ist Reddish ein für einen Contender geeigneter Three-and-D-Wing? Könnte man auf dem Trademarkt vielleicht sogar Teile des sehr tiefen Kaders für einen zweiten Star eintauschen? Antworten auf diese Fragen suchen die Hawks in dieser Saison. Natürlich sollte das Ziel sein, an den jüngsten Erfolgen anzuknüpfen – dabei sollte man aber nicht das große Ganze aus den Augen verlieren.
Egal wie weit man am Ende kommt – Atlanta ist schon jetzt eines der spannendsten Teams der NBA und dürfte in den nächsten Jahren mindestens zu den besten Franchises der Eastern Conference gehören. Mit dem verehrten Kollegen Jonathan Walker habe ich mich in dessen Podcast „Jeden Tag NBA“ ausführlich über die Hawks und ihre Chancen in der kommenden Saison unterhalten. Das Roster, die Stärken und Schwächen des Teams und den Best und Worst Case für 2021/22 – über all das spreche ich mit Jonathan. Hört euch die Folge gerne an, wenn ihr noch mehr über die Atlanta Hawks erfahren wollt: Hier geht es zur Folge!