Als ich vor dem gestrigen Champions-League-Finale die Startaufstellung von Manchester City sah, dachte ich mir nur: „Nicht schon wieder. Warum, Pep?“ Ilkay Gündogan als nominell defensivster Mittelfeldspieler? Rodri und Fernandinho auf der Bank? Raheem Sterling in der ersten Elf? Guardiola hatte vor der Partie noch gesagt, er habe vollstes Vertrauen in seine Spieler. Warum also nicht in seine bewährte Taktik? Ich war noch nie ein Freund des Guardiola-taktiert-seine Mannschaft-kaputt-Narrativs, und auch dieses Mal würde ich es nicht als fatalen Fehler bezeichnen, ohne Rodri/Fernandinho und mit Sterling zu spielen. Doch einen Gegner wie Chelsea, der einmal mehr eine defensive Meisterleistung zeigte, hätte City meiner Meinung nach nur mit ihrer bewährten, erdrückenden Dominanz bezwingen können. Ein wichtiger Bestandteil dieser Dominanz war in den letzten Monaten ein Ankersechser namens Rodri oder Fernandinho. Die Einwechslung des brasilianischen Routiniers in der 64. Minute kam einem Eingeständnis Guardiolas gleich. Doch 25 Minuten vor Schluss, beim Stand von 0:1 und kurz nachdem Kapitän Kevin de Bruyne verletzt und weinend den Platz verlassen hatte, war es zu spät.
City hatte zwar wenig überraschend viel Ballbesitz (60%), strahlte über 97 Minuten (sieben Minuten Nachspielzeit!?) jedoch viel zu wenig Gefahr aus. Von den sieben Abschlüssen ging nur einer tatsächlich auf das Tor von Édouard Mendy. Der xG-Wert von 0.7 war für die Skyblues der niedrigste in dieser Champions-League-Saison. De Bruyne, Sterling, Phil Foden, Riyad Mahrez, Bernardo Silva – keiner der Künstler konnte für nennenswerte Torgefahr sorgen. Auch Gabriel Jesus und Sergio Agüero konnten nach ihrer Einwechslung nicht mehr den Unterschied machen. So viel Luft nach oben an diesem Abend auch für die City-Offensive war, darf man aber nicht vergessen, mit wem sie es zu tun hatten.
Denn der FC Chelsea hat sich absolut verdient zum Champions-League-Sieger gekrönt. Das Team von Thomas Tuchel präsentierte sich einmal mehr als konterstarkes Defensivbollwerk. Timo Werner ließ ihn der ersten Halbzeit mal wieder zwei gute Gelegenheiten liegen, nur um dann in der 42. Minute mit einem genialen Laufweg Rúben Dias aus dem Zentrum zu ziehen und die Tür für Kai Havertz weit aufzustoßen. Ein herrlicher Pass von Mason Mount, Havertz umkurvte Ederson und erzielte das entscheidende Tor des Abends. Während Guardiola mit seiner Aufstellung danebengriff, lag Tuchel goldrichtig damit, Havertz von Beginn an spielen zu lassen, obwohl einige mit Christian Pulisic gerechnet hatten. Tuchel vertraute sich selbst und seiner Spielidee, stellte seine Mannschaft perfekt auf den Gegner ein und setzte dann auch noch auf das richtige Personal. Der 47-Jährige gewinnt also knapp fünf Monate nach seiner Entlassung bei Paris Saint-Germain mit einem anderen Verein den Henkelpott. Was Tuchel und sein Team in den letzten Monaten geleistet haben, lässt sich kaum zu weit in den Himmel loben. In weniger als 18 Wochen vom abgeschlagenen Tabellenneunten der Premier League zum Sieger der Königsklasse.
Und das Verrückteste: Diese Mannschaft steht erst am Anfang ihrer Entwicklung. Von den 14 am Samstagabend eingesetzten Spielern haben wahrscheinlich nur Thiago Silva (dessen verletzungsbedingte Auswechslung von Andreas Christensen glänzend kompensiert wurde) und César Azpilicueta ihre besten Jahre bereits hinter sich. Tuchel hat aus dem breiten und talentierten Kader eine Einheit geformt, jedem Spieler eine klare Rolle zugewiesen und den Blues wieder eine Identität gegeben. Zahlreiche Leistungsträger werden sich in ihrer ersten vollen Saison unter seinen Fittichen noch mehr entwickeln. Außerdem ist das Portemonnaie des Roman Abramowitsch auch in Pandemie-Zeiten prall gefüllt und bereit, für hochkarätige Verstärkungen (zum Beispiel Harry Kane?) geplündert zu werden. Chelsea hat auf seinem Weg zum Spitzenteam die ein oder andere Stufe übersprungen – ist der nächste Schritt nun ein Großangriff auf die Premier-League-Trophäe?
Und City? Manch einer wird sagen, das erneut knappe Scheitern des großen Traums ist ein Stück weit ausgleichende Gerechtigkeit. Zur Erinnerung: Die Citizens hätten sich aufgrund ihrer Financial-Fairplay-Sünden eigentlich eine europäische Pause gönnen müssen, ehe der CAS dieses Urteil unter schleierhaften Umständen revidierte. Wie dem auch sei… Scheich Mansour wird erneut stattliche Summen in die Hand nehmen, Pep Guardiola wird erneut an seiner Taktik tüfteln und Manchester City wird erneut davon träumen, den Henkelpott endlich in Händen zu halten. Die Geschichte der Skyblues unter Pep ist noch nicht zu Ende erzählt.
Für die Geschichte des anderen Manchester-basierten Clubs blicken wir zurück auf den Mittwochabend. Das Europa-League-Finale in Danzig war ein Spiel für Fußballromantiker. Auf der einen Seite das englische Schwergewicht, für das die Trophäe nicht mehr als ein neues Stück Edelmetall in der ohnehin schon überfüllten Vitrine wäre. Auf der anderen Seite der Verein aus dem spanischen 50.000-Einwohner-Städtchen, für den ein Sieg den ersten Europapokal-Triumph der Clubgeschichte – und die Champions-League-Qualifikation – bedeuten würde. Alles war angerichtet für einen spannenden, mitreißenden Abend… naja, theoretisch zumindest.
Die reguläre Spielzeit und die Verlängerung lassen sich ganz gut mit einem Blick auf die Torschussstatistik zusammenfassen. Manchester United und der FC Villarreal fabrizierten in 120 Minuten zusammen sage und schreibe drei (in Zahlen: 3!) Schüsse aufs Tor. Mit einem halbvollen Glas könnte man den Akteuren auf dem Rasen zugutehalten, dass zwei dieser drei Schüsse im Netz zappelten. Bedenkt man, dass beide Tore die Folge einer Standardsituation waren, ist das Glas schon wieder maximal halbleer. Der Gesamteindruck des Abends wurde zwar durch ein hochklassiges Elfmeterschießen aufpoliert – der tatsächlich gespielte Fußball war jedoch ganz harte Kost.
Ich war vor allem schockiert von der Einfallslosigkeit Manchester Uniteds. Dass die Red Devils mit viel Ballbesitz gegen tiefstehende Gegner in der Regel kein Feuerwerk abbrennen können, war kein Geheimnis. Dass es Villarreal allerdings derart leichtfiel, Uniteds Stars aus dem Spiel zu nehmen, war für mich erschreckend. Ich will Unai Emery dabei nicht seine taktischen Kniffe absprechen. „Mister Europa League“ wusste genau, wo ManUs Stärken liegen und wie er sein Team einstellen muss, um diese zu neutralisieren. Bruno Fernandes, Dreh- und Angelpunkt der United-Offensive in dieser Saison, konnte über 120 Minuten gefühlt keinen Ball annehmen, ohne sofort von mehreren in gelb gekleideten Herrschaften umzingelt zu sein. Edinson Cavani und Marcus Rashford konnten kaum in vielversprechende Positionen gebracht werden. In einigen Fällen lud Villareal die Red Devils förmlich dazu ein, über die rechte Seite zu attackieren, da sie Aaron Wan-Bissaka und Mason Greenwood (zurecht) für eine kleinere Bedrohung hielten als Luke Shaw und Rashford.
Die Hilflosigkeit, mit der Ole Gunnar Solskjær seine Mannschaft diesen (zu erwartenden) Hürden aussetzte, war für mich als Zuschauer nahezu deprimierend. Dem Trainer die komplette Schuld in die Schuhe zu schieben, wäre allerdings nicht angebracht. Bei einem Blick auf die Ersatzbank fiel auf, dass der Kader des Premier-League-Vizemeisters relativ dünn besetzt ist. Wenn man Fred, Daniel James, Axel Tuanzebe, Alex Telles und Juan Mata einwechselt, erwartet man von diesen Spielern nicht unbedingt Heldentaten. Warum Solskjær aber erst in der Verlängerung wechselte – und warum Donny van de Beek nichts ins Spiel kam – ist mir schleierhaft. United hatte keinen Plan B, keine zündende Idee und Villarreal war als Außenseiter mit dem Status Quo zufrieden. So plätscherte das Spiel 120 Minuten lang einschläfernd vor sich hin.
Das Elfmeterschießen war dann immerhin spannend, hochklassig und vor allem lang. Es war absurd, wie ein Schütze nach dem anderen verwandelte – jeder noch etwas sicherer als sein Vorgänger. David de Gea, der elfmal hinter sich greifen musste und dann auch noch als einziger Schütze vergab, wurde zur tragischen Figur. Aber selbst in dieser Sache würde ich Solskjær nicht komplett von Schuld freisprechen. Mit Dean Henderson saß ein Keeper auf der Bank, der acht seiner letzten 19 Strafstöße halten konnte. De Gea hingegen hatte zu Beginn des Abends 29 Elfmeter in Folge nicht pariert – inzwischen sind es 40. Mein Mitleid für den Spanier hielt sich tatsächlich in Grenzen, nachdem er mehrmals à la Tim Krul („I know!“) mit Psychospielchen versuchte, die Villarreal-Spieler aus der Fassung zu bringen.
Am Ende setzte sich der spanische Provinz- gegen den englischen Super-League-Club durch und feierte seinen Triumph ausgelassen. Es war die logische Konsequenz von Uniteds mangelnder Qualität an diesem Tag, der Sieg einer durch und durch sympathischen Mannschaft und ein gelungener Abend für Fußballromantiker.